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Hamburg: Zwölf Orte, die du gesehen haben musst
Fünf Jahre ist es her. Am Hamburger Hauptbahnhof in die S-Bahn. Ich kenne die Richtung noch. Wer war ich 2018, als ich hier mein Praktikum machte? Dass ich hier mein Praktikum machte? Ich fuhr Psychose- und Suchterkrankte mit dem Auto zu Terminen, erkundete die Stadt mit einem viel zu kleinen Fahrrad, lag fast täglich nach dem Praktikum am Strand und frühstückte sonntags auf dem Fischmarkt. Meistens allein. Ich hatte von der Großstadt geträumt, seit ich mit zwölf auf dem Hamburger Dom (Volksfest) gewesen war. An diesem Wochenende zeige ich meinem Freund meine Lieblingsorte. Zuerst den Elbtunnel. Runter nehmen wir die Treppe, hoch den Fahrstuhl. Mein Freund ist begeistert. Ein Jugendchor…
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Bin ich zu schüchtern, um Therapeut zu werden?
Als ich in den Kindergarten kam, stand ich in den ersten Wochen am Rand und schaute den anderen Kindern beim Spielen zu. Eine Erzieherin machte sich Sorgen und sprach das beim Abholen an. Meine Eltern, Großeltern, Großtanten und wer sich sonst noch liebevoll um mich kümmerte, waren einiges von mir gewohnt: Vom Plärren im Flugzeug bis zum Zirkus, wo ich zwei Stunden lang den Kopf wegdrehte. Ich hatte Angst vor Orten, an denen menschengroße Figuren standen, vor Schaufensterpuppen, Masken, Perücken, Marionetten und dem Hasen im Osterexpress. Gegenüber Fremden hielt ich mich an vertrauten Beinen fest. Wie oft hörte ich, ich sei schüchtern? Und später die Antwort, dass ich das schon…
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Fünfundzwanzig und Therapeut – in Ausbildung
Endlich bin ich PiA, Psychotherapeut in Ausbildung. Es regnet seit drei Tagen und ich mache den Spaziergang im Tageslicht, nach dem ich mich seit Silvester sehne, lieber nicht. Im Dezember habe ich die Praktische Tätigkeit 1 in einer Tagesklinik begonnen. Die Praktische Tätigkeit 1 umfasst 1.200 Stunden in einer psychiatrischen Einrichtung und soll genau ein Jahr dauern. Ich bin zu zwei Dritteln als PiA, zu einem Drittel als Psychologe angestellt, arbeite 38,5 Stunden die Woche und verdiene gut 2000 Euro brutto im Monat. Die Ausbildungskosten liegen bei 330 Euro monatlich. Ich stehe um 6:15 Uhr auf, gehe um 7 Uhr aus dem Haus, fahre 10 Minuten Fahrrad, nehme um 7:25…
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Irland Darlin‘
Mittwoch, 02.11.2022 Bevor eine Freundin nach dem Abi allein in Irland Bagpacking machte, sagte sie: „Freiheit spürst du erst, wenn du zitternd im Nordwind stehst. Du musst diesen Weg allein gehen, ohne Familie und ohne Freunde.“ Sie spielte darauf an, in einer anderen Stadt und einem anderen Land zu studieren. Beides habe ich gemacht. Ich bin alleine gereist. Es fühlte sich an, als bräuchte ich das, aber heute geht es mir anders. In meinem Alter lautet die Lebensaufgabe nach Erikson, Isolation zu überwinden und Nähe zu schaffen. Früher war Romantik, allein auf Felsen am Meer zu sitzen. Heutzutage ist sie etwas Zwischenmenschliches. Wie Christopher McCandless vor seinem Tod in Alaska…
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Bratislava mit mei’m Lava
In Vilnius picknickte ich mit ein paar Mitbewohnerinnen aus dem Wohnheim auf einer Lichtung. Ein Mädchen aus Singapur berichtete, dass sich seine Mutter und Schwester nach Vilnius Bratislava ansehen würden.„Ich will auch nach Bratislava“, sagte ich, allein wegen des Namens. Bratislava klingt nach glühenden Sonnenuntergängen über goldverkuppelten Kirchen. Die slowakische Mitbewohnerin lächelte mich erwartungsvoll an.„Ist es die Hauptstadt der Slowakei?“, fragte ich. Sie nickte. Ich war nicht besser als die Leute, die fragen, wo Vilnius liegt. An dem Tag rechnete ich nicht damit, mein neues Reiseziel noch im selben Jahr zu erreichen. Monate später in Wien denke ich nicht daran, bis mein Freund und ich entdecken, dass wir quasi nebenan…
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Wien, Sigmund und Freud‘
Als ich 17 war, wollte ich mit einer Freundin nach Wien. Wenn Ryan Adams in seinem Song Sylvia Plath singt: „I wish I had a Sylvia Plath / […] cigarette ashes in her drink / The kind that goes out on her own […] / And maybe she’d take me to France / Or maybe to Spain, and she’d ask me to dance“, dann war sie meine Sylvia Plath.Sie nahm mich nicht mit nach Wien, sondern nach Prag und das Foto des Sonnenaufgangs über der Karlsbrücke erinnert mich daran, wie ich Städtetrips damals empfand: intensiv und wunderbar, obwohl die Dinge zwischen mir und dem Licht oft melancholische Schatten warfen und…
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Da ba dee Norderney
Was für ein viel zu heißer, aber schöner Sommer, dieser Sommer ’22. Mit dem Semesterticket, Bus und Bahn, geht es durch Deutschland: Zurück in die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, zu meiner Familie und meinen längsten Freund*innen. An geheime Orte, wo nur ein Bus hinfährt. Auf eine mehrtägige Radtour an der Weser entlang, an einem Bahnhof lese ich: „Ein Reisender ist jemand, der sein Leben in vollen Zügen genießt.“ Ich ergattere den letzten Sitzplatz und fahre zum ersten Junggesellinnenabschied in meine erste Studienstadt. Unser Lieblingsclub ist immer noch da, vor dem Kiosk am Unihauptgebäude stehen sie Schlange. An den Wochenenden zelten wir auf dem Land, radeln rüber nach Holland…
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#50 Ein Auslandsjahr in Vilnius: Das Wichtigste auf einen Blick
Hier findet ihr eine Auflistung meiner Lieblingsorte, -cafés, -restaurants etc. in Vilnius sowie weitere nützliche Informationen zum Leben in der Stadt. Zudem ist dieser Beitrag eine Art Inhaltsverzeichnis für die vorherigen 49 Beiträge über meine Zeit in Vilnius. Klickt einfach auf ein Stichwort und ihr gelangt zu dem entsprechenden Beitrag 🙂 ÄrzteEinmal war ich in Vilnius beim Arzt, der von der Deutschen Botschaft empfohlen wurde, und musste 200€ aus eigener Tasche vorlegen. Meine normale Krankenversicherung übernahm davon 40€, aber zum Glück hatte ich vor meinem Aufenthalt eine zusätzliche Auslandskrankenversicherung abgeschlossen, die den Rest bezahlte. Ohne eine solche sollte man sich besser in der Klinik „Antakalnio poliklinika“ vorstellen, wo direkt über…
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#49 Soundtrack des Frühlingssemesters / Soundtrack of the spring semester
See below for the English version HIER geht es zum Soundtrack meines zweiten Semesters in Vilnius. Auf dem Weg zum Flughafen hatte ich Motion Sickness von Phoebe Brigers im Ohr und eine lange Zeit ohne jemand Bestimmten vor mir, nach dem sich mein Magen umdrehte. Am nächsten Tag lief im Depeche Coffee Boys Don’t Cry von The Cure, gefolgt von Rocket Man (I Think It’s Gonna Be A Long, Long Time) von Elton John. Ich entdeckte Dracula von den Wallners, das für etwa drei Wochen mein Lieblingslied wurde und mit dem ich an der reißenden Vilnele entlang joggte. In der Hoffnung darauf, dass das neue Semester viel Neues bringen würde,…
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#48 Unikurse des Frühlingssemesters / University courses of the spring semester
See below for the English version Im Frühlingssemester belegte ich drei Kurse, die alle freitags stattfanden. Mein Stundenplan für diesen einen Unitag in der Woche sah so aus: 9:00 Uhr – 10:30 UhrLove, Sex and Marriage: Transcultural, Evolutionary and Anthropological Perspectives (Liebe, Sex und Ehe: Transkulturelle, evolutionäre und anthropologische Perspektiven)Der amerikanische Professor dieses Kurses war schon älter und wird den Kurs nach uns nur noch einmal geben. Die Themen waren sehr interessant und reichten von evolutionären und anthropologischen Sichtweisen, die Liebe als universal und nicht auf die westliche Welt begrenzt sehen, über eine Theorie verschiedener Liebesstile bis hin zur Betrachtungen unterschiedlicher Kulturen und Sexualitäten und ihrer Liebesmodelle. Zum Beispiel lernte…
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#47 Litauisches Nationaltheater für Oper und Ballett, Lukiškės-Gefängnis und Nationalgalerie / Lithuanian National Opera and Ballet Theatre, Lukiškės Prison and National Gallery of Art
„Welche drei Dinge wirst du am meisten vermissen?“, fragte mich der Junge aus Singapur, mit dem ich ab und zu Schach spielte.Er kochte gerade etwas, das großartig aussah und roch. In den letzten vier Monaten in Litauen hatte er sich das Kochen selbst beigebracht und kochte besser als ich. Ich bekam das Erbsen-Einmachglas nicht auf, aber er hielt es unter heißes Wasser und der Deckel gab nach.„Ich werde die vielen gemütlichen Cafés mit Selbstbedienung vermissen, in denen es normal ist, allein stundenlang zu sitzen“, sagte ich. „Und natürlich euch – Menschen aus der ganzen Welt zu treffen. Und als Drittes … von fremder Sprache umgeben zu sein – nicht zu…
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#46 – Klaipėda, Nida & Palanga
Meine letzte Reise in Litauen ging nach Klaipėda, Nida und Palanga ans Meer. Ich reiste mit Nana aus Japan zusammen. Für die vierstündige Zugfahrt durch sattgrünes Land zahlten wir nur elf Euro. Nana schlief sofort ein. Ich hörte eine Folge über das Attentat an Daphne Caruana Galizia und anschließend meine Road-Trip/Train-Track-Playlist. Auf dem Klapptisch eine Reihe weiter stand ein kleiner Käfig mit einer riesigen, grauen Maus mit riesigen Ohren, höchstwahrscheinlich war es keine Maus.Gegen 15 Uhr kamen wir in Klaipėda an. Eine Autoampel leuchtete Grün. Beim ersten Mal trauten wir uns nicht über die Straße, später stellte ich fest, dass in Klaipėda einige Fußgängerampeln Kreise anstelle von Männchen zeigen. Das…
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#45 Varškės sūrelis, Kirschblüten und Botanische Gärten / Varškės sūrelis, cherry blossoms and botanical gardens
Heute wurde mir mein letzter Magija-Vanilla-Riegel aus dem Kühlschrank geklaut. Wir brauchen Augen an den Kühlschränken. In einer Studie nahmen sich Personen weniger kostenfreien Kaffee, wenn ein Bild von einem Auge an der Wand hing, als wenn kein Auge präsentiert wurde. Menschen scheinen sich unter Augendarstellungen moralischer zu verhalten – wie unter Überwachungskameras. /Today my last Magija vanilla bar was stolen from the fridge. We need eyes on the fridges. In one study, people were less likely to take free coffee when a picture of an eye was on the wall than when no eye was presented. People seem to behave more morally under eye displays – like under surveillance…
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#44 Gediminas-Turm, Tor der Morgenröte und PORTAL / Gediminas Tower, Gate of Dawn and PORTAL
Laut der japanischen Botschaft in Paris erkranken jedes Jahr 20 bis 24 Personen schwerwiegend am Paris-Syndrom. Meist sind Japaner*innen von der vorübergehenden psychischen Störung betroffen, zu deren Symtomen etwa Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Angst, Herzrasen, Schweißausbrüche und Schwindel zählen. Die Ursache wird in den enttäuschten Erwartungen der Tourist*innen an die Stadt der Liebe gesehen.Bei einem Städtetrip nach Vilnius könnte ein gegenteiliges Phänomen auftreten. Vilnius ist nicht Rom, London oder Paris, ganz klar. Vilnius ist so wenig beliebt, dass kaum mehr als ein roter Hop-on-hop-off-Bus an den Tourismus in der Stadt erinnert. Vor meinem Aufenthalt wurde ich von meiner Professorin gefragt, ob Vilnius in Lettland liege. Pietro Lombardi ist in Deutschland vermutlich bekannter…
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#43 ESCAPE Camp
See below for the English version Die „Grand ESCAPE“ ist das größte Camp für internationale Studierende in Litauen, das dieses Jahr vom 13.5. bis 15.5. am See Guostus stattfand. Die FAQs zu dem Trip waren: „Werden wir in Zelten schlafen?“ Und: „Werden wir ein Escape Game spielen?“ Die Antwort auf beide Fragen lautet nein.In 95€ waren Transport, Unterkunft und alle Mahlzeiten enthalten. Auf der einstündigen Busfahrt unterhielt ich mich mit einer Italienerin über den weißen und grünen Winter in Litauen. Inzwischen glaube ich, dass es hier nur in den beiden Monaten, die ich verpasse – Mitte Juni bis Mitte August – richtig warm wird. Ein paar warme Tage hatte ich…
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#42 Danzig / Gdańsk
Auf der Flughafentoilette lese ich: „Did you know that the astronomer Johannes Hevelius was born in Gdańsk?“ Daniel Gabriel Fahrenheit, Arthur Schopenhauer und Günter Grass auch. Aber ich bin hier, weil mein Opa in Danzig geboren wurde. Seine ersten siebeneinhalb Lebensjahre verbrachte er im Stadtteil Langfuhr (heute Wrzeszcz). Seine Großmutter betrieb dort ein Fuhrunternehmen, seine Mutter und Tanten hatten das Lyzeum besucht. Mit 17 war seine Mutter mit ihm schwanger geworden, was ihr von der Mutter Schläge einbrachte. Der Vater meines Opas war vom Land in die Stadt gekommen, ein Flötist beim Rundfunk, dessen Vater als Eisenbahnvorsteher arbeitete. Meine Urgroßeltern heirateten, bekamen aber kein weiteres Kind.Kurz vor meiner Reise nach…
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#41 Kopenhagen / Copenhagen
Am Kopenhagener Flughafen sprang ich in die Metro, die an die SkyLine des Frankfurter Flughafens erinnert. Ich hatte kein Ticket und fragte eine junge Frau nach der Möglichkeit, eins zu kaufen. Sie sagte, dass sie in Kopenhagen wohne und eine Fahrkartenapp habe. Ich gab ihr mein Handy und sie installierte die App „DOT Billetter“. Ich gab meine Kreditkartendaten ein und sie wählte das passende Ticket zur Station „Kongens Nytorv“. Beim Schwarzfahren erwischt zu werden, koste 100 Euro, meinte sie. Die Metro fuhr zuerst oberirdisch und vor der Stadtmitte in den Untergrund. Ich fragte die Frau, ob sie einen Geheimtipp für die Stadt habe und sie tippte „den sorte diamant“ in…
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#40 Oslo Teil 2 / Oslo Part 2
Die Markthalle in Oslo ist chic, mehr für Tourist*innen als für alltägliche Mahlzeiten angelegt. Es gibt Käsewürfel zum Probieren, den Rest zum Angucken oder teuren Preis./The Foot Hall in Oslo is chic, designed more for tourists than for everyday meals. There are cheese cubes to try, the rest to look at or pay a high price for. Das Technikmuseum begeistert besonders dich und deine Begeisterung ist ansteckend. Du siehst ein Perpetuum mobile wie aus „Jim Knopf“ und weißt schon, dass es nicht funktionieren kann. Wir sehen uns durch einen Verhörspiegel abwechselnd und kommunizieren über Satellitenschüsseln. Wir spielen ein Spiel, bei dem ich versuche, zu erraten, was eine Erfindung darstellt, und…
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#39 Oslo Teil 1 / Oslo Part 1
Aus dem Flugzeugfenster sehe ich unzählige Seen, Berge und Schneeflächen. In wenigen Stunden wirst du sie sehen. In wenigen Minuten werde ich in deiner Zeitzone landen und dich voll Vorfreude erwarten.Vom Flughafen geht es mit der Bahn ins Zentrum Oslos. Der erste Blick in die Stadt erinnert mich an Helsinki, wobei hier mehr los ist. Personen stehen um einen Bronzetiger herum, ich gehe an ihnen vorbei zu den Haltestellen „A“ bis „D“. Ich brauche mehrere Minuten, bis ich die Haltestelle „S“ gefunden habe./From the plane window I see countless lakes, mountains and snowy plains. In a few hours you will see them. In a few minutes I will land in…
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Die Kollektivschuld der Deutschen
Das neue Jahr 2017 durfte ich mit Freund*innen und deren Freund*innen im Schrebergarten meiner Mutter feiern. Wer in dieser Silvesternacht in Deutschland draußen war, erinnert sich vielleicht daran, dass sie sehr kalt war. Bei etwa minus zehn Grad knieten wir um Holzscheite herum, die mehr glühten als brannten, als jemand die Kollektivschuld der Deutschen leugnete. Er fand auch Putin gut, aber sein Verspotten der Kollektivschuld fand ich damals sehr viel bedenklicher. Die Deutschen – das waren früher Deutsche. Die Deutschen – das sind heute wir. Ein Volk gibt nicht nur Errungenschaften weiter, sondern auch Verantwortung. Bei der Annahme der Kollektivschuld der Deutschen geht es weder darum, dass du und ich…
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#38 Holocaust-Ausstellung, Blutsee vor der russischen Botschaft und Blausterne auf dem Friedhof / Holocaust exhibition, lake of blood in front of the Russian embassy and blue stars in the cemetery
An den vielen bis zu 15 Grad warmen, sonnigen Tagen im März war ich fast jeden Tag auf dem Berg der drei Kreuze, habe die dünne Jacke aus dem Secondhandshop ausgezogen und mich darauf ins Gras gelegt, Musik gehört, telefoniert und gelesen. Da die Treppe immer noch abgesperrt ist und ich oft keine Lust hatte, noch ein ganzes Stück weiterzulaufen und den Hügel von der anderen Seite aus hochzugehen, musste ich ab der französischen Botschaft häufig kraxeln (wie man besonders in Süddeutschland und Österreich so schön sagt). /On the many up to 15 degree warm, sunny days in March, I was on the Hill of the Three Crosses almost every…
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#37 Riga
Vor dem Hintergrund des Russland-Ukraine-Kriegs setze ich mehr Pläne in die Tat um. In den letzten Wochen habe ich vermehrt beobachtet, dass sich Menschen lange gehegte Wünsche erfüllen. Cozy hat wieder angefangen, Salsa zu tanzen. Eine Freundin reist gerade durch Großbritannien. Meine Mutter hat gestern einen Welpen bekommen. Mit der Hauptstadt Lettlands wollte ich ursprünglich warten, bis die Bäume wieder grün werden, aber momentan fällt mir Warten schwer. Letztes Wochenende hatte ich einen Essay und ein Paper abgeschickt, für die ich noch eine Woche Zeit gehabt hätte, und nichts mehr zu tun. Der Wetterbericht war voll gelber Kreise. Ich dichtete das Lied Pack die Badehose ein von Cornelia Froboess um,…
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Buchhandlung tintenstiller
Willkommen in meiner virtuellen Buchhandlung! Heute Nacht hatte ich einen intensiven Traum. Ich träumte, ich würde eine Buchhandlung eröffnen, an der Überwasserkirche mitten in Münster. Auf dem Konto hatte ich gerade genug Geld dafür. Meine Mutter bestellte die ersten Bücher und Postkarten, von denen ich enttäuscht war, weil darauf kirchliche Motive abgebildet waren. Ich wollte coole Postkarten. Und Bücher, die mich selbst bewegt hatten.Meine Tante sagte: „Das wird eine Buchhandlung für junge Leute.“Für junge Leute, von denen ich am besten wusste, was ihnen gefallen würde – was sie einfach lesen mussten. Ich sah dabei zu, wie meine Mutter und Tante die Buchhandlung für mich einrichteten und mit Deko, Kuscheltieren und…
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#36 Straße der ukrainischen Helden, Fest des heiligen Kasimir und Litauens zweiter Unabhängigkeitstag / Street of Ukrainian Heroes, Feast of St. Casimir and Lithuania’s Second Independence Day
Gleich drei Personen aus Deutschland haben mir die Nachricht geschickt, dass Vilnius der Straße, die zur russischen Botschaft führt, den Namen „Straße der ukrainischen Helden“ gegeben hat. Wer jetzt einen Brief an die russische Botschaft in Vilnius adressiert, wird dabei an die Opfer der russischen Aggression und die Helden der Ukraine erinnert. Wohin ich gehe, sehe ich Blau und Gelb. Angefangen bei der Katze, die mir auf dem Weg in die Innenstadt oder nach Hause ihren Hintern entgegenstreckt, über Friedenstauben auf der Säule des Engels von Uzupis bis hin zu Brücken und Gebäuden in blau-gelbem Scheinwerferlicht. Ganz zu schweigen von den Flaggen, die aus Fenstern hängen wie Zungen aus schreienden…
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#35 Litauischer Karneval, MO Museum und Literatenstraße / Lithuanian Carnival, MO Museum and Literary Street
Eine Sirene heult. Von einer Sekunde auf die nächste bin ich hellwach. In Deutschland kenne ich das Geräusch von Probealarm. Mein Herz rast. Dann fällt mir ein, dass Krankenwagen und Polizei hier so klingen. Allmählich beruhige ich mich und schlafe wieder ein. Am nächsten Morgen sehe ich zuerst eine Nachricht von Cozy: „Wenn du dich entscheidest, Nachrichten zu gucken und drüber reden willst, bin ich da.“Dann ruft mein Vater an, wie in der Woche zuvor jeden zweiten Tag. Kiew sei bombardiert worden, ich solle nach Hause kommen. Ich schaue in die New York Times. Litauische Nachrichten verstehe ich nicht, deutsche thematisieren zu viel aus Deutschland. Nachmittags treffe ich Cozy in…
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In Teufels Küche: Alkohol ist krebserregend
Ich gehöre zu den sieben Prozent, die keinen Alkohol trinken (Global Drug Survey, 2021). Oft werde ich gefragt, warum und antworte dann sehr knapp. Ich habe viele Gründe, aber vielleicht schulde ich sie der Welt, die Rechtfertigung verlangt für alles, was nicht der Norm entspricht. Vor allem, wenn es mir so vorkommt, als sei nicht ich merkwürdig, sondern die Norm. Ich bin den Freund*innen aus meiner Jugend dankbar, die sich bei Geburtstagen für Softdrinks und auf dem Weihnachtsmarkt für Kinderpunsch entschieden. Das war für mich ein guter Schutz. Als Kind bekam ich mit, wie Verwandte tranken – Probleme mit Alkohol sind in meiner Verwandtschaft nicht selten. Das heißt, auch ich…
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#34 Hunde, Kaunas als Kulturhauptstadt und Litauens erster Unabhängigkeitstag / Dogs, Kaunas as Capital of Culture and Lithuania’s first Independence Day
Gestern habe ich auf dem 450 Meter langen Weg zum Supermarkt zwei Knochen gesehen. Hundeknochen, hoffentlich. In dieser Großstadt sind Huskys beliebt, nicht die schlanken, die mich in Lappland im Schlitten gezogen habe, sondern robuste, schwarz-weiße mit blauen Augen. Und Windhunde, die im Winter frieren müssen. Aber auch viele kleine. Dass ein Hund frei herumläuft, ist nicht ungewöhnlich.Anfang der Woche war ich Joggen oder wollte es zumindest, es war so vereist, dass ich mehr gegangen bin./Yesterday I saw two bones on the 450 metre walk to the supermarket. Dog bones, hopefully. Huskies are popular in this big city, not the slim ones that pulled me in the sledge in Lapland,…
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#33 Uniräumlichkeiten, Valentinsparty und Kazys Varnelis House-Museum / University rooms, Valentine’s party and Kazys Varnelis House-Museum
Der Anfang des Semesters ist voller Erlebnisse, sodass ich erst jetzt wieder zum Schreiben komme. Zum ersten Mal hatte ich zwei Univeranstaltungen im Gebäude der Philosophischen Fakultät, das als Teil der alten, wunderschönen Universitätsgebäude mitten in der Innenstadt liegt, direkt neben dem Präsidentenpalast. Kriminologie und „Cognitive Science of Religion“ fanden im selben Raum statt, in dem wir um einen Tisch saßen./The beginning of the semester is full of experiences, so I’m only now getting around to writing again. For the first time, I had two university lectures in the building of the Faculty of Arts, which is part of the old, beautiful university buildings in the middle of the city…
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Was siehst du in diesem Tintenklecks
Was haben Psychologie und das Schreiben historisch gemeinsam? Ganz einfach: TINTE! Es hat viel Spaß gemacht, das Logo dieses Blogs zu erstellen. Ein DIN-A4-Blatt falten, mit schwarzer Wasserfarbe einen halben Tintenklecks malen, ihn scannen, spiegeln und mit Effekten versehen und tada! Heraus kam: Ja, was eigentlich? Was siehst du in diesem Tintenklecks? Einen Käfer? Einen Drachen? Ich sehe ein Rentier. Wer schon mal Therapy gespielt hat, dem ist dieses Fantasierätsel bekannt. In dem Spiel soll man unter anderem erraten, was die meisten Menschen in einem bestimmten Tintenklecks sehen. Schreib gerne als Kommentar, was du darin siehst, es interessiert mich wirklich. Inspiriert zu den Tintenklecksen wurden die Macher*innen von Therapy offenbar…
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#32 Ich bin zurück. / I am back.
See below for the English version. Um 17 Uhr ist es noch ein bisschen hell, den kältesten Wintermonat habe ich übersprungen, woanders verbracht. Ich esse die Tucs, die mir jemand vor dem Flug in den Rucksack geschmuggelt hat und blicke auf den schmelzenden Schnee hinaus. Die Aussicht aus dem Wohnheimzimmer ist vertraut, aber noch letzte Nacht war alles anders. Ich hatte ein gemütliches Zuhause und Schmetterlinge im Bauch, die sich heute Morgen in einen Schwarm Bienen verwandelt haben. Die Maschine hebt gegen 9:00 Uhr ab, ruckelt durch die Wolkendecke und gleitet sanft durch den strahlenden Himmel darüber. Ich erkenne den rundlichen Mann, der bei meinem letzten Flug nach Vilnius Ende…
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Die Psychologie hinter der Musik
Nach dem Beitrag Das war meine Musik: Das Warme in E-Musik über die Musik meiner Teenagerjahre habe ich mich gefragt: Warum mögen wir bestimmte Lieder und andere nicht? Sagen unsere Lieblingssongs etwas über uns aus? Verändert sich unser Musikgeschmack im Laufe des Lebens und wenn ja, warum? Ich habe recherchiert und dabei auch etwas darüber gelernt, warum wir überhaupt Musik hören, wie sie unsere Stimmung verändern und sogar beeinflussen kann, wen wir mögen. Warum uns Musik so wichtig ist Als Bonneville-Roussy und Kolleg*innen (2013) Studienteilnehmende zwischen 13 und 65 Jahren fragten, wie wichtig ihnen Musik sei, gaben 31% der Teilnehmenden an, eine Leidenschaft für Musik zu haben, 38% war Musik…
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Das war meine Musik: Das Warme in E-Musik
Wenn Leute gefragt werden: „Was war deine Musik?“, antworten die meisten mit den Liedern, die sie als Jugendliche hörten. Meine vergangene Musik wird später weniger die sein, die ich heute im jungen Erwachsenenalter höre, als die, die ich als Teenager mochte. Nie mehr werde ich so viel Musik hören wie damals, wird sich mein Geschmack so schnell verändern, werde ich so viel entdecken. Ich wurde in dem Jahr geboren, als der Sänger von INXS Selbstmord beging, 15 Jahre später wurde Mystify eins meiner Lieblingslieder. Die Lieder, die ich als Teenager toll fand, erschienen nicht nur von 2007 bis 2017. Ich bediente mich an der Musik meiner Eltern, Großeltern und Freundinnen,…
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#31 Unikurse des Herbstsemesters / University courses of the autumn semester
See below for the English version. Den ganzen Januar über habe ich frei, während andere in Vilnius Klausuren schreiben (im Januar ist die offizielle Klausurenphase). Im Herbstsemester habe ich extra Kurse gewählt, in denen die Prüfungsleistungen schon im Dezember erbracht wurden. Drei Kurse musste ich nur bestehen, um die 330 Euro Erasmusstipendium im Monat zu behalten (bei nur 86€ Mietskosten im Monat ließ es sich damit gut auskommen). Auf der Internetseite der Universität Vilnius sind eine Menge Kurse aufgelistet, die auf Englisch gegeben werden. Das Angebot reicht von Arabischer Literatur über Kriminologie bis hin zu Astrobiologie. Cool dabei ist, dass man in vielen Fällen nicht etwa Psychologie studieren muss, um…
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#30 Soundtrack des Herbstsemesters / Soundtrack of the autumn semester
Ich habe eine Playlist erstellt (auf Spotify: Vilnius 2021), die die Lieder enthält, die mich in meinem ersten Semester in Vilnius begleitet haben:/I created a playlist (on Spotify: Vilnius 2021) containing the songs that accompanied me during my first semester in Vilnius: 1. Las cosas se me olvidan – DespistaosDieses Lied wird mich immer an die Anfangszeit und meine spanische Zimmergenossin erinnern. Sie hat es am Anfang hoch und runter gespielt, im Zimmer, im Bad, in der Küche – und damit für gute Laune gesorgt./This song will always remind me of the early days and my Spanish roommate. She played it up and down in the beginning, in the room,…
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#29 Nach Lappland, Nordlichter sehen / To Lapland, see the Northern Lights
Von Dienstag auf Mittwoch Nacht bin ich von einer wunderbaren Reise zurückgekommen. Als Kind habe ich „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ geliebt. Nils Holgersson fliegt mit den Gänsen davon, und zwar nach Lappland, weit in den Norden. Das Introlied der Serie und Lappland wurden zu einem nostalgischen Traum. Der ESN-Trip „Adventure to Northern Lapland, Saariselkä (Tue, 30.11.2021 – Wed, 08.12.2021)“ hat ihn wahrgemacht. Mit der Nils-Holgersson-Melodie im Ohr bin ich nach Lappland gereist, zwar mit keiner Wildgans, aber ganz wild./From Tuesday to Wednesday night I returned from a wonderful trip. As a child, I loved „The Wonderful Journey of Little Nils Holgersson with the Wild…
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#28 Paupys, Christmas Lights und das Großfürstliche Schloss / Paupys, Christmas Lights and the Palace of the Grand Dukes of Lithuania
Unser Blick aus dem Fenster am 23. November war dieser:/Our view from the window on November 23 was this: Meine spanische Zimmergenossin freute sich riesig, als hätte sie noch nie Schnee gesehen – und ich mich auch. Eine Argentinierin hatte zwar schon mal Schnee, es aber noch nie schneien sehen und war fasziniert.Nachmittags stapfte ich bereits durch ein paar Pfützen. Hier und da fiel mir ein dicker Tropfen auf die Mütze. Ich war mit einer Freundin im Mint Vinetu verabredet, um Schach zu spielen. Vom Bus aus sah ich ganz Vilnius halb verschneit. Mit weißen Dächern sah es ganz anders aus, sehr hübsch.Das Mint Vinetu hatte anders als die Woche…
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#27 Historische Museen, Secondhandläden, Einkaufzentrentren, Kinos / Historical museums, second-hand stores, shopping centers, cinemas
Über vieles habe ich noch nicht geschrieben und ich entdecke immer wieder Neues. Selbst jetzt in den letzten Wochen meines ersten Semester in Vilnius, in denen Prüfungen anstehen. An manchen Tagen sitze ich in der Nationalbibliothek, schreibe an einem Essay, arbeite an einer Präsentation, lese Texte für ein Exam. Ich habe den Musikraum im obersten Stock entdeckt, in dem ein E-Piano mit Kopfhörern steht. Ein Instrument hat mir bis dahin gefehlt. In den Pausen spiele ich „Chasing Cars“. Zum Mittagessen gehe ich die Gediminas Avenue hinunter zu „+++“. Dort ist es zwar nicht gemütlich, aber das Mittagsmenü inklusive Suppe, Hauptgericht und Getränk für 3,99€ kommt schnell.Gegen Abend gehe ich dann…
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#26 Pirates of the Baltic Sea: Mit dem Schiff nach Stockholm / Pirates of the Baltic Sea: By ship to Stockholm
Mit dem Segelschiff nach Stockholm, das war mein Traum. Mitte September buchte ich die Reise „Pirates of the Baltic Sea“, die vom ESN einmal im Semester angeboten wird und sich hauptsächlich an Erasmusstudierende aus Finnland, Litauen, Lettland und Estland richtet. Auf den Werbeflyern war ein großes Segelschiff abgebildet, aber einen Tag vor der Reise schaute ich mir die Fotos noch mal genauer an und stellte fest, dass es sich tatsächlich um ein Kreuzfahrtschiff handelte. Was ich Bekannten als umweltfreundlich verkauft hatte, war tatsächlich die größte Umweltsünde, die ich nie begehen wollte. Ich nehme mich nicht in Schutz, ich nahm sie in Angriff, mit schlechtem Gewissen, aber ohne die Reise zu…
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#25 Halloween, Allerheiligen und Allerseelen / Halloween, All Saints Day and Day of the Souls
Halloween (31.10.) Von der „ESN Fright Night“ wurde uns die gruseligste Karaokeparty versprochen, die wir je erleben würden. In der Dämmerung machte ich mich in der Gediminas Avenue auf die Suche nach einem Kostüm oder wenigstens einer Maske. Am liebsten wäre mir eine einfache Kürbismaske gewesen, passend zu meinem orangefarbenen Oberteil (ich habe weder etwas Schwarzes noch etwas Glitzerndes oder sonderlich Schickes in meinen beiden Schrankfächern)./We were promised the spookiest karaoke party we would ever experience by the „ESN Fright Night“. At dusk, I went in search of a costume or at least a mask on Gediminas Avenue. My favourite would have been a simple pumpkin mask to match my…
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#24 Regionalpark Labanoras und Kernavė, das litauische Pompeii / Labanoras Regional Park and Kernavė, Lithuanian Pompeii
Der Regionalpark Labanoras besteht zu 13% aus Wasser. Ich hätte mehr geschätzt. Wir parkten das Auto in der Nähe des Aussichtsturms, den wir als Ziel gewählt hatten. Durch die Bäume blickten wir auf ein paar Trailer. Hier schienen die Litauer*innen Urlaub zu machen. /The Labanoras Regional Park is 13% water. I would have estimated more. We parked the car near the lookout tower we had chosen as our destination. Through the trees we looked at a few trailers. Lithuanians seemed to be on holiday here. Ein paar Schritte weiter sahen wir den Aussichtsturm schon – und einen Steg. Wenn ich mich zwischen Turm und Steg entscheiden muss, wähle ich den…
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#23 Nationalbibliothek, Lieblingscafé und Kaunas‘ Kloster / National Library, Favourite Café and Kaunas Monastery
Auf FlightAware sehe ich, dass dein Flugzeug gerade zur Landung angesetzt hat. Heute vor einer Woche war ich ganz aufgeregt, als der Monitor am Flughafen anzeigte, dass du gelandet bist. Ein paar Minuten später kamst du durch die Schiebetür und wir fielen uns um den Hals. Du erschienst mir unwirklich. Zwei Monate lang hatte ich dich fast täglich auf Bildschirmen gesehen. In Person war ich dich gar nicht mehr gewohnt. Auch die Straßen und frische Luft am Morgen war ich nicht mehr gewohnt gewesen, als ich die Quarantäne verließ. Alles erschien mir wunderschön. Ich sah Vilnius mit neuen Augen, blickte im Trolleybus staunend aus dem Fenster, als käme ich aus…
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#22 Quarantänetagebuch / Quarantine diary
See below for the English version. I Mittwoch, 13.10.2021 Nach der Morgendusche habe ich die Fenster geöffnet und mich auf die Fensterbank gesetzt. Eine Frische zwischen Winter und Herbst, Morgen und Nacht strömte mir entgegen. Das ist von nun an nicht nur mein Schreibtisch, sondern auch mein Balkon. Der Ausblick aus dem anderen Fenster unterscheidet sich nicht wesentlich, obwohl mir der Raum groß vorkommt: Im rechten Fenster spiegelte sich eine Kirche. Lag sie weiter rechts außer Sichtweite oder konnte ich sie am anderen Fenster sehen? Ich ging zurück zum linken Fenster und sah sie in Wirklichkeit: Um 9 Uhr klopfte es das erste Mal und ich konnte mir mein Frühstück…
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#21 Infiziert mit Covid-19 / Infected with Covid-19
12.10.2021 See below for the English Version. Ein Husten durchbricht den Frieden. Dies ist ein Ort der Ruhe, steht in den Isolationsregeln des Hotels. Nur leise sprechen und mit Kopfhörern hören ist erlaubt. Ich nehme die anderen Gäste nicht wahr, bis auf dieses Husten. Es hört sich nicht gut an. Die Stille schon. Als zöge sie die ganze Aufregung aus meiner Brust. Ich bin isoliert, allein mit dem Virus, aber zufrieden. Die Schokolade vorgestern Abend schmeckte nach Zucker. Nur kurz meinte ich einen Geschmack wie Schokolade zu erhaschen. Plötzlich schoss mir durch den Kopf, was ich vorher irgnoriert hatte, automatische Gedanken, die ich zuvor schon gedacht hatte: „Habe ich die…
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#20 Medizinische Versorgung und ein Brief aus Hogwarts / Medical care and a letter from Hogwarts
See below for the English version. Manchmal werde ich gerne krank. Mein Körper sagt: Es ist genug. Ich könnte eine Woche auf dem Sofa gut gebrauchen. Die letzten Wochen waren schön, aber anstrengend. Zwei Tage lang merke ich, dass meine Nase läuft. Ich fühle mich schnell erschöpft. Meine Zimmergenossin quält sich bereits im Bett mit einer dicken Erkältung. Auf den Fluren hören wir andere niesen und husten. Die Französinnen, mit denen wir das Bad teilen, sind schon seit einem Monat krank, gehen aber trotzdem auf Partys und machen Unternehmungen. Meine Zimmergenossin entscheidet sich, zum Arzt zu gehen. Sie fährt zum Klinischen Stadtkrankenhaus Vilnius, vertut sich aber im Gebäude und landet…
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#19 Trakai, Bernhardiner-Friedhof und (Regional-)Parks im Herbst / Trakai, St. Bernard Cemetery and (Regional) Parks in Autumn
In den letzten Tagen habe ich viele Spaziergänge und Wanderungen gemacht. Das Wetter ist herrlich und die Bäume sind wunderschön bunt. Über den Regionalpark Pavilniai, der direkt vor meiner Haustür liegt, habe ich ja schon geschrieben, aber das Herbstlaub lässt ihn noch einmal in einem ganz neuen Look erscheinen:/In the last few days I have been doing a lot of walking and hiking. The weather is wonderful and the trees are beautifully colourful. I have already written about the Pavilniai Regional Park, which is right on my doorstep, but the autumn leaves give it a whole new look: Kurz nachdem ich meine „geheime“ Lichtung entdeckt hatte, traf ich eine Nachbarin…
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#18 Mauern, Fassaden, Cafés und ein Held / Walls, façades, cafés and a hero
Plötzlich war da ein Stück der Berliner Mauer, als wir vom Europos Parkas nach Hause aufbrachen. Eine Dozentin hatte uns ein paar Tage vorher gefragt, ob wir einen Brocken der Berliner Mauer zu Hause hätten – sie habe einen und war erstaunt, dass alle Deutschen in ihrem Kurs verneinten./Suddenly there was a chunk of the Berlin Wall as we set off home from Europos Parkas. A lecturer had asked us a few days before if we had a chunk of the Berlin Wall at home – she had one and was amazed that all the Germans in her class answered in the negative. Als ich es sah, stellte ich mir…
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#17 Kalvarijų-Markt und Europos Parkas / Kalvarijų Market and Europos Parkas
Am Sonntag schien die Sonne, keine Wolke am Himmel. Jemand fragte, ob ich Lust hätte, mit in den Europos Parkas zu kommen. Beim Blick auf die Internetseite fragte ich mich, ob das der Skulpturenpark war, den ich schon während des Schüleraustauschs besucht hatte. Ich hatte ihn damals nicht sonderlich spektakulär gefunden, aber die Chance auf ein gemeinsames Walderlebnis bei gutem Wetter wollte ich mir nicht entgehen lassen. Anders hätte ich auch nicht mehr herausfinden können, ob ich in dem Park tatsächlich schon war./The sun was shining on sunday, not a cloud in the sky. Someone asked if I would like to come to Europos Parkas. Looking at the website, I…
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#16 Herbsttagundnachtgleiche, Basektball und Rote-Beete-Suppe / Autumn Equinox, Basektball and Beetroot Soup
Am Mittwoch war Herbsttagundnachtgleiche – und die wurde hier gefeiert. Um 20 Uhr überquerten wir die Neris, an deren Ufer bereits Kerzen brannten./Wednesday was the autumn equinox – and it was celebrated here. At 8 pm, we crossed the Neris, with candles already burning on its banks. Wir positionierten uns auf der gegenüberliegenden Seite. Ich trug Anorak, Handschuhe und Mütze – es fühlte sich eher nach Winterbeginn als nach Herbstanfang an. „Von der warmen Jahreszeit Abschied nehmend und der dunklen Zeit des Jahres begegnend“, hatte in der Beschreibung des Events gestanden. Schon jetzt sollte den Gottheiten traditionell für die reife Ernte gedankt werden und damit „die Bedeutung der Grenzen zwischen…
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Algarve
Kurz vor Vilnius verbrachte ich eine Woche an der Algarve. Danach ging es von Südwesten nach Nordosten, zwanzig Grad Celsius abwärts. Ich hatte Sonne getankt und Licht in Form von Fotos dabei. Mit den Füßen im Atlantik stehen. Der erste Abend am Strand, an dem wir glaubten, Afrika zu sehen. Unser erstes Zimmer lag über der „Vegas Bar“ in einer sehr belebten Straße Albufeiras. Wenn wir gegen die Balkontür drückten, fühlten sich die Bässe von draußen wie ein Erdbeben an. Der Raum vibrierte kontinuierlich. Wir entdeckten, dass ein Handtuch in der Balkontür den Schall ein wenig dämpfte. Irgendwann schliefen wir ein und bekamen nicht mehr mit, ob es gegen vier…
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#15 Cat Café, Kaffee mit Katzen / Cat Café, coffee with cats
See below for the English version. „Ich würde heute gerne in ein gemütliches Café gehen“, sagte ich heute Mittag zu meiner Zimmergenossin auf Englisch. „Wo ich lesen und schreiben kann. Kennst du ein gemütliches Café?“„Magst du Tiere?“, fragte sie.„Ja.“„Katzen?“Ich nickte.„Es gibt ein Café mit Katzen. Nicht weit von hier, vielleicht 20 Minuten zu Fuß. Nahe der Kathedrale.“Ich war begeistert, packte meine Sachen – Handy, Portemonnaie, E-Book, Notizbuch, Mäppchen – und los ging’s. Seit drei Tagen regnet es. Es ist kälter geworden, unter zehn Grad. Ich habe mir Vitamin-D-Tabletten gekauft. Morgen sollte die Heizung angehen, ich glaube aber nicht daran. Schon an der Haustür des Wohnheims begegnete mir eine Katze: Heute…
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#14 Quarkball, Mr. Pub und ein Paket aus Deutschland / Curd ball, Mr. Pub and a package from Germany
See below for the English version. Das Quarkbällchen war riesig. Es gab es noch einmal in einer mit Puderzucker bestreuten Form. Ich biss hinein. Es triefte vor Fett, ansonsten schmeckte es wie ein Quarkbällchen. Ich drehte den Teller, um es ohne den Biss zu fotografieren. Ich aß es mit Cozy, meiner Austauschpartnerin aus der Schule, im Café des riesigen Einkaufszentrums Ozas, das mir bekannt vorkam. Es liegt nahe dem Lyzeum, Cozys alter Schule (die kurz vor der Pandemie umgebaut worden war), vermutlich war ich während des Schüleraustauschs schon mal hier gewesen. Die Schule würde ich später nicht wiedererkennen. Neben mir stand ein Paket aus Deutschland, mit Herzgeschenkpapier verziert. Es hatte…
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#13 Der Notfallplan / The emergency plan
See below for the English version. Ein Erasmusstudent aus Spanien hat uns nach zwei Wochen verlassen. Er sei hier nicht gut angekommen. Die Sachen, die er sich zum Kochen gekauft hatte, stehen jetzt in unserem Regal. Es sind nicht viele. Auf einer Reise erlebe ich Hochs und Tiefs, deren Amplitude höher ist als in meiner gewohnten Umgebung. Ich schwanke zwischen Momenten der Verzweiflung und des Glücks, aber was später in Erinnerung bleibt, ist blanke Schönheit. Ich habe gestern mit einer Freundin am Telefon darüber gesprochen, in dem leeren Gemeinschaftsraum dieses Wohnheims. Ganz leer ist er nicht, es stehen immerhin zwei Wäscheständer darin. Ich lerne, mit wenig auszukommen, und habe es…
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#12 Kaunas, Kulturhauptstadt Europas 2022 / Kaunas, European Capital of Culture 2022
Ein Kenner Litauens sagte mir, Kaunas sei praktisch eine Großstadt in Klein. Sie hätte alles, was eine Großstadt auch hat, nur ein bisschen kleiner. Die Allee in der Stadtmitte, das Einkaufszentrum, die Burg, der Hauptbahnhof – alles da, nur ein bisschen kleiner./A connoisseur of Lithuania told me that Kaunas is practically a big city in miniature. It has everything a big city has, just a little smaller. The avenue in the city centre, the shopping centre, the castle, the main railway station – everything is there, just a little smaller. Nachdem wir den Hauptbahnhof, die ersten Straßen und die Akropolis – das Einkaufzentrum -, passiert hatten, kamen wir in die…
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#11 Markthalle auf dem Weg nach Kaunas / Market hall on the way to Kaunas
Auf dem Weg nach Kaunas haben wir uns mal wieder verlaufen. Das heißt, wir haben den Bahnhof mit dem Punkt in Vilnius verwechselt, der auf Google Maps ebenfalls „Vilnius“ heißt. Nicht so schlimm – so haben wir an dem Tag auch was von Vilnius gesehen./On the way to Kaunas we got lost again. That is, we confused the station with the point in Vilnius, which is also called „Vilnius“ on Google Maps. Not so bad – that way we also got to see something of Vilnius that day. Wir kamen an einigen Museen vorbei, die ich am liebsten direkt besucht hätte – und an dem Rathaus Vilnius‘, das wie ein…
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#10 Die Verfassung der Repuplik Užupis, Kūdrų parkas und Heißluftballons / The Constitution of the Užupis Republic, Kūdrų parkas and hot air balloons
Gegen Abend machte ich mich heute auf zum Park „Kūdrų parkas“, den meine Zimmergenossin mir empfohlen hatte und der fußläufig nur eine Viertelstunde entfernt liegt. Ich musste wieder durch Užupis./Towards evening today I went to the park „Kūdrų parkas“, which my roommate had recommended to me and which is only a quarter of an hour’s walk away. I had to go through Užupis again. Dabei begegnete mir die Verfassung dieses Viertels in allen möglichen Sprachen!/Thereby I encountered the constitution of this neighbourhood in all kinds of languages! „1. Jeder Mensch hat das Recht, am Fluss Vilnele zu wohnen, und die Vilnele hat das Recht, an jedem vorbeizufließen.“/ „1. Everyone has…
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#9 Medizinische Fakultät und Vingio parkas, der Waldpark am Fluss / Faculty of Medicine and Vingio parkas, the forest park by the river
„Be happy for this moment. This moment is your life.“ (Omar Khayyam) Heute Vormittag habe ich wieder das gute Wetter genutzt und bin zur Medizinischen Fakultät gefahren, die am Vingio parkas, einem großen Waldpark, liegt. Die Fakultät liegt in einer ruhigen Straße:/This morning I took advantage of the good weather again and went to the Faculty of Medicine, which is located at Vingio parkas, a large forest park. The faculty is on a quiet street: Bei dem Park schien es sich zunächst um einen alten Friedhof zu handeln…/The park initially appeared to be an old cemetery… …Dann verwandelte sich der Park in einen Wald, der am Fluss entlangführte./…Then the park…
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#8 Sonnenuntergang auf dem Berg der drei Kreuze / Sunset on the Hill of Three Crosses
Übrigens: Man braucht nicht alles. Anstatt Hausschuhe zu kaufen, habe ich gelernt, Flipflops mit Socken zu tragen. Es reicht ein Sonnenuntergang./By the way, you don’t need everything. Instead of buying slippers, I learned to wear flip-flops with socks. One sunset is enough. Als wir gestern um 19 Uhr losgingen, sah es so aus, als sei die Sonne schon untergegangen. Dabei war der Sonnenuntergang erst für 19:54 Uhr geplant./When we left yesterday at 7 pm, it looked as if the sun had already set. Yet sunset was only scheduled for 7:54 pm. Wir kamen an dieser hübschen Kirche vorbei. Kamen in einen schönen Park und passierten einen Fluss:/We passed this pretty…
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#7 Cozy, Album von Jozy, Restaurant und Austauschschülerin / Cozy, album by Jozy, restaurant and exchange student
Um ihren Namen hier nicht zu nennen, nenne ich sie Cozy. Ich war sechzehn, als ich sie eine Woche in Vilnius besuchte. Es war das erste Mal, dass ich ohne ein Familienmitglied in einem anderen Land war. Ich fand es unheimlich spannend, in der Gastfamilie einen Einblick in das Leben der Litauerinnen und Litauer zu erlangen. Den Beutel schwarzen Tees nur für drei Sekunden in heißes Wasser zu tauchen und dann Zucker hinzuzugeben. Basketballspiele an der Küchentheke beim Essen zu sehen, in einem hohen Wohnhaus mit Ausblick. Schon in der Woche habe ich die für Litauen bekannte Rotebeete-Suppe probiert (weiß aber nicht mehr, wie sie schmeckt). Ich war in Trakai…
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#6 Regionalpark Pavilniai (Pavilnių regioninis parkas)
Heute bin ich durch den Regionalpark Pavilniai gewandert, der quasi vor der Haustür des Olandu-Wohnheims liegt. Ich wollte das gute Wetter ausnutzen. Sonnenschein, an die 20 Grad. Zuerst ging ich lange diese Straße entlang:/Today I walked through the Pavilniai Regional Park, which is practically on the doorstep of the Olandu dormitory. I wanted to take advantage of the good weather. Sunshine, around 20 degrees. First I walked along this road for a long time: Irgendwann tauchte so etwas wie ein winziges Dorf auf:/At some point, something like a tiny village appeared: Dort gab es einiges zu sehen:/There was a lot to see there: Damit hatte ich mein Ziel erreicht. Das…
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#5 Der Weg zur Philosophischen Fakultät / The way to the Faculty of Philosophy
Heute habe ich mich auf den Weg zur Philosophischen Fakultät gemacht, um dort meine erste Veranstaltung, den Kurs „Umweltpsychologie“, zu besuchen. Ich hoffte sehr, den Raum zu finden – die einzige Angabe, die ich im Timetable hatte, war: Rooms: 015 (60) (BS) Ich klickte diese kryptischen Zeichen an, was mich nicht weiterbrachte. Wofür stand BS? Vermutlich für ein bestimmtes Gebäude in der Philosophischen Fakultät. Meine Mitbewohnerinnen versicherten mir, dass es sich bei der Fakultät um ein einziges Gebäude handelte. Mit Nachfragen würde ich den Raum schon finden. Ich nahm den Bus und stieg an der Haltestelle „Karaliaus Mindaugo tiltas“ aus, wie immer, wenn ich in die Stadt fahre. Die Sonne…
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#4 Die Universitätsbibliothek und die Bibliothek von Olandu / The University Library and the Library of Olandu
Wie bereits erwähnt, haben die Zimmer der Wohnheime nur einen Tisch, egal, ob es sich um ein Zweibett- oder ein Dreibettzimmer handelt. Irgendwo musste ich aber meine Masterarbeit schreiben, nach einem Tag auf dem Bett hatte ich Rückenschmerzen. Also bin ich zur alten Universität gelaufen. Dabei kam ich durch das schöne Künstlerviertel Uzupis über diesen Fluss: Über eine Brücke mit Liebesschlössern an dieser Kirche vorbei: Kurze Zeit später erreichte ich das wunderschöne Universitätsgebäude, von dem ich bisher nur dieses recht düstere Foto habe: Wer sich von der Schönheit der Universitätsbibliothek beeindrucken lassen möchte, sollte diese virtuelle Führung durchgehen: https://turas.mb.vu.lt/#!startscene=centrines_bibliotekos_pastatu_ansamblis Ich kam in das Foyer zu zwei Empfangsdamen. Die eine wollte…
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#3 Regen, Schwulenclub und Whiskey-Burrito / Rain, gay club and whiskey burrito
See below for the English version. Ich habe zwei Anoraks dabei, der Dünnere hängt noch zum Trocknen am Schrank. Die Hose liegt föhnbereit neben mir. Der Anorak war noch nie so bis auf die innerste Daune durchnässt. Es passierte am Montag, meinem ersten vollen Tag in Vilnius. Mit meiner Mitbewohnerin fuhr ich zum Saulėtekio-Wohnheim, das weiter außerhalb liegt und wie das dritte Wohnheim einen schlechteren Ruf als das Olandu dormitory hat. Wir nahmen ein Bolt-Car, für das es eine App gibt und das günstiger als ein Taxi ist. Es kostete 7,50€. Am Saulėtekio dormitory trafen wir eine Freundin meiner Mitbewohnerin und gingen mit drei weiteren Erasmusstudentinnen in einem Imbissrestaurant namens…
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#2 Olandų dormitory
See below for the English version. Das Olandu dormitory ist angeblich das beste, ruhigste und zentralste Wohnheim der Universität Vilnius. Die Rezeption dort ist 24/7 besetzt. Der ältere Rezeptionist spricht kein Englisch, meine Mentorin musste dolmetschen. Nach Vorzeigen des Impfzertifikats und Personalausweises bekam ich einen Vertrag ausgehändigt, den ich mit meinen Daten vervollständigen und unterzeichnen musste. Ein anderer Bewohner half mir. Da ich so früh ankam, durfte ich mich zwischen einem Zweibettzimmer (87€/Monat) und einem Dreibettzimmer (58€/Monat) entscheiden. Ich wählte das Zweibettzimmer. Die Treppen hoch, durch den dunklen Gang und eine offene Tür in ein Flurstück, das drei Türen enthielt. Die eine Tür führte ins festerlose Bad, in das gerade…
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#1 Anreise / Arrival
See below for the English version. Ich bin von Dortmund abgeflogen. Ein Billigflug für 13€, mit einem großen Koffer Gepäck knapp 70€. Ich saß am Fenster, links neben mir zwei kräftige Männer. Der eine war mir schon in der Flughafenhalle aufgefallen. Sie gehörten zu dem Mann mit Glatze, der jemandem mit Krücken vor der Sicherheitskontrolle den Sitzplatz weggenommen und dann mit heruntergezogener Maske dagesessen hatte. „Ich bin auch behindert“, sagte er.Dieser Mann ging zum Glück an mir vorbei, seine Freunde setzten sich.Der ältere von beiden sprach mich an: „Alles gut? Was machst du in Vilnius? Du studierst da? Trinkst du Alkohol? Nein, oder, Studenten trinken kein Alkohol.“Richtig, ich trinke keinen…
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Auswahlgespräch für die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten / zur Psychologischen Psychotherapeutin – Fragen & Tipps
Juhu! Ich habe einen Platz an einem Ausbildungsinstitut für Psychologische Psychotherapieausbildung erhalten. (Das ist die Ausbildung, die man nach einem abgeschlossenen Master in Psychologie machen kann, um Therapeut*in zu werden.) Das Auswahlgespräch war für die Zusage entscheidend. Noten, Lebenslauf, jegliche Zertifikate – angelblich unwichtig. Meine Motivation und persönliche Reife sollten erfasst werden. Vor dem Gespräch hätte ich gerne gewusst, welche Fragen mir dazu gestellt werden würden. Auf ein paar Fragen habe ich mich vorbereitet, aber die meisten kamen überraschend … Mein erster Tipp für alle, denen ihr Auswahlgespräch noch bevorsteht: Sprecht mit Personen, die das Gespräch schon hinter sich haben. Welche Fragen wurden ihnen gestellt? Was scheint dem Institut wichtig…
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Und dann ist die Sache erledigt
Für alle, die gerade einen Abschluss machen. Ein Text aus dem Frühjahr vor fünf Jahren Wenn er lacht und ich ihn ansehe, kann ich ihm nicht lange in die Augen sehen. Mein Gesicht muss dann automatisch auch lachen und ich wende den Blick ab, doch zu spät; ich habe mich schon preisgegeben. Ich drehe die Musik auf, so leise, dass ich die Gitarre, die Trommeln und die Stimme gerade noch höre. Starte den Tag mit einem Brownie und guter Musik – eine der vielen Weisheiten, die ich von ihr gelernt und nicht oft genug gelebt habe. Eben habe ich geträumt. Meine Zunge fühlt sich pelzig an, ansonsten geht es mir…
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Homeoffice
home is where your typewriter is
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Omas Geburtstagsgedicht
bevor Schnee fällt, lassen wir Knallerbsen knallensie hallen nach – Festkorken, nur für unsRüssel, die Glück bringen, zeigen nach obenTrompeten, die heute für dich spielen sollenkleine Ohren aus Indien – deine sind die großenaus Afrika. Erste Wörter, Gesang, Klavierspieldu hörst alles, steigst durch das Loch im Zaunsammelst Nüsse, knackst sie, gibst mir zu vielich hole kleine Gehirne heraus, nehme deineGeschichten in mich auf. Es riecht nach FliederLampions über der Terrasse. Die Fische im Teichsind noch da. Puddinghaut schmeckt wunderbarder Weiher gefriert, wir trauen uns darauf, wirschmelzen das Eis, schlecken es genüsslich undschon suche ich mir wieder eine Mütze aus, soder Kreislauf: gut, stabil, von Herzen, das Bestewünsche ich dir. 80…
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Ich bin Marienkäfer, kein Schmetterling
Marien hatte sich in zwei Schmetterlinge verliebt, die viele Insekten bewunderten. Libellen priesen die farbensatte Intransparenz ihrer Flügel, Mücken ihre ungeheure Großzügigkeit, Bienen ihre ultraviolette Zartfühligkeit und eine Hummel mochte von der Lautlosigkeit ihres Tanzes ganz hingerissen sein, doch kein Insekt war so sehr von den beiden verzaubert wie Marien. Kaum ein Tag verging, an dem er nicht von ihnen träumte, und wenn er sie sah, fühlte er Glück und sehnte sich nach ihnen. Nie hatte er vorher so schöne und anmutige Wesen gesehen, die so liebevoll und leuchtend miteinander tanzten; nichts wünschte er sich sehnlicher, als selbst einmal mit ihnen zu fliegen, ebenso frei und leicht und glanzvoll wie…
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Was hilft
„And it’s hard to hold a candle / In the cold November rain“ – Guns N‘ Roses Ich zünde ein Licht an. Meine Liebe wohnt gegenüber einer Kapelle, in der immer, wenn ich dort bin, einige Kerzen brennen. Und manchmal, wenn jemand einen Hoffnungsschimmer braucht, geht sie einfach hinüber und zündet ein Teelicht an. Ich erlebe sie nicht als sehr gläubig, aber sie mag Metaphern. Blogbeiträge sind auch wie Lichter, die man von zu Hause aus anzünden kann. Die Luminanz eines Bildschirms ist vergleichbar mit Tageslicht, das weckt und wachhält. Novemberlicht kann wunderschön sein, aber auch ermüdend. Sobald es droht, mich in eine bad mood zu versetzen, hilft mir, mich…
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Warum Schreiben 1
Der Spiegel lässt die Augen der Betrachterin auseinanderwandern, wölbt die Stirn, hebt die Wangenknochen. Eine Kamera fängt jedes Merkmal annähernd unverzerrt ein. Sie sieht sich nicht gerne auf Fotos. Die Ausstrahlung schafft es nicht durch Filter. Auch nicht in Videos. Ihre Stimme erscheint ihr in Aufnahmen fremd, auch wenn anderen kein Unterschied auffällt. Der wesentliche Teil ihrer Stimme vibriert nur im Innern. Sie wird anderen nicht zeigen können, wie sie sich selbst sieht und hört und wie ihre Gedanken klingen. Es sei denn… Sie schreibt. Beschreibt das Gesicht im nächtlichen Fenster. Und ihre Beschreibung bekommt einen Ton. Einen Leser. Mit Fantasie.
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Freunde aus Holz und Tinte
Ich nehme sie aus dem Regal und sortiere sie neu: Lyrik zu Lyrik, Dickens zu Dickens, Hemingway zu Fitzgerald. Die starken Frauen zusammen und die Jugendbücher, die ich verschlang, auf einen Stapel. Russen auf Russen, Franzosen auf Franzosen, Deutsche auf Deutsche – ich frage mich, ob mein Vorgehen rassistisch oder sexistisch ist, aber betrachte die verschiedenen Gruppen mit Zuneigung. Philosophische, psychologische und historische Türme sowie fantastische und naturwissenschaftliche Einzelgänger. Die Stapel bilden ein wachsendes, buntes Gebirge auf dem Laminat. Reclam zu Reclam, Drama zu Drama. Ein Glücksgefühl überrollt mich. Reiseführer zu Reiseführer, Schullektüre zu Schullektüre, Fremdsprachiges zu Fremdsprachigem. Ich schwimme in Büchern, wie Onkel Dagobert in Geld. Nur manche, mit…
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Viel Welt
Als ich heute das Haus verließ, um spazieren zu gehen, rief mir jemand „Viel Spaß“ nach. Das war nett, aber führte mir vor Augen, dass es zu wenige geläufige Wünsche gibt. Ich würde auf meinem Spaziergang vielleicht schöne Eindrücke sammeln, mich an Herbstlaub, Vögeln, Gerüchen, Menschen, Gebäuden erfreuen, frische Luft atmen, mich erholen, auf neue Gedanken oder Ideen kommen – aber Spaß haben? Trifft diese Möglichkeiten nur oberflächlich. Wir sind offenbar eine Gesellschaft, der vor allem Spaß und Erfolg wichtig ist, manchmal auch Glück, selten Kraft und oft nur an Geburtstagen Gesundheit oder Freude, wenn wir einander „viel“ wünschen. Wie wäre es, ein paar zusätzliche Floskeln einzuführen und das Repertoire…
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Traumberuf: Synchronsprecher
Es heißt, die Stimme sei das Erste, was man von einem Menschen vergesse. Über ein Jahrzehnt nach seinem Tod höre ich die Stimme meines Großvaters noch in mir nachhallen. Auch die Stimmen meiner ehemaligen Klassenkamerad*innen kann ich zurückholen. Wobei – bei vielen aus der Grundschule fällt es schwer. Ich weiß noch recht gut, wie sie aussahen, aber wie sie sich anhörten? Zugegeben, bei den meisten habe ich keine Ahnung mehr. Und die Stimme meines Großvaters ertönt auch nur noch dünn in meinem Gedächtnis, in einer schwachen, hohen Frequenz, immer fröhlich, immer dieselben Sprüche oder Kosenamen, die er uns gab. Ich hätte gerne alles behalten, was er sagte und wie es…
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Freunde von Idioten
„Ich glaube, das ist der Abschied, Freunde, wobei:Man verabschiedet sich nicht, wenn man nicht vorhat, sich wiederzusehen.“– John Green, Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken Was einen Freund von einem Idioten unterscheidet? Ganz klar: Werte. Nicht der Wert, den ein Mensch für dich hat. Es geht um innere Werte, die derjenige nach außen trägt. Um wertorientiertes Verhalten. Ich weiß, wer es war, der an der Frau, die mit geröteten Augen und tauben Beinen auf Pflastersteinen saß, vorbeiging, obwohl er sie kannte. Sein Blick erschien ihr angewidert. Ein gut situierter, angesehener Mann, ein Freund ihrer Schwester. Als die Frau zwei Stunden später im Krankenhaus untersucht wurde, kümmerten sich ihre Nachbarn, die selbst…
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Herbst
„Aus der Hand frisst der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde. / Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen: / die Zeit kehrt zurück in die Schale.“ – Paul Celan, Corona Ich stelle ihn mir bunt und gemütlich vor, mit viel Tee, Sofawärme, Holz neben dem Kamin und Kürbissen auf dem Balkon. Eine Zeit, in der man sich Fotos ansieht und Vergangenem nachsinnt, Kastanien sammelt, Brownies backt, Drachen steigen lässt, Suppe kocht, durch feuchte Wälder wandert, Lesungen besucht, Filme sieht und sich verliebt. In meiner Vision regnet es draußen nur Blätter und ich drehe mich drinnen zu Schallplatten in warmem Wohnzimmerlicht, schäle Mandarinen und hole…
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Gesehen werden
„Wir alle haben das Bedürfnis, von jemandem gesehen zu werden. Man könnte uns in vier Kategorien einteilen, je nach der Art von Blick, unter dem wir leben möchten.Die erste Kategorie sehnt sich nach dem Blick von unendlich vielen anonymen Augen, anders gesagt, nach dem Blick eines Publikums. […]Zur zweiten Kategorie gehören die Leute, die zum Leben den Blick vieler vertrauter Augen brauchen. […]Dann gibt es die dritte Kategorie derer, die im Blickfeld des geliebten Menschen sein müssen. […]Und dann gibt es noch die vierte und seltenste Kategorie derer, die unter dem imaginären Blick abwesender Menschen leben. Das sind die Träumer.“ – Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Wenige Stunden…
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Warum Verschwörungstheorien
Ich habe mich heute ein paar Stunden lang mit Verschwörungstheorien befasst. An manchen Sonntagen, nachdem ich Sport gemacht habe, anstatt in die Kirche zu gehen, picke ich mir ein Thema heraus, das mich derzeit bewegt und versuche, darin Experte zu werden. Ich suche nach Studien und lande schließlich bei leicht verständlichen Podcasts, Videos und Blogbeiträgen. Danach könnte ich einen eigenen Beitrag über das Thema verfassen, aber oft fühle ich mich dazu nicht bereit. Wenn Wissenschaft eine Annäherung an die Wahrheit ist, ist das, was ich tue, ein Herantasten an die Annäherung der Wahrheit und ich kann nicht verantworten, dass Leute mir glauben. Dabei hat sich der Drang in mir angestaut,…
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Der Wilde Westen
„Ich bin in den Wald gezogen, weil mir daran lag, bewusst zu leben, es nur mit den wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben.“ – Henry David Thoreau, Walden Ich bin nach Westen gezogen. Wenn ich in den Wilden Westen will, muss ich mich nur in den Bus setzen, der vor meiner Haustür abfährt. Er fährt aus der Stadt raus, an Äckern vorbei, über Flachland ohne tiefe Wälder. Eine halbe Stunde später steige ich aus und er ist da. Der Wilde Westen ist dort, wo Fliegen im Maisfeld seinen Rücken umschwärmen, wir über Leitern auf das Dach des Schuppens klettern, um Kirschen zu pflücken und mit dem Kanu das…
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Für B.
du verstehst dass es nicht darum gehtzu verstehen dass es gleichgültig istob an diesem Tag etwas entstehtdas von Dauer ist dass nurdas Gefühl wichtig ist das unsdurchströmt und an das wir unswie an ein paar Verse erinnern werdendass wir hier sitzen in einemCafé an dessen Scheibenzweimal FEEL AT HOME stehtund wir schreibenist schon Kunst an sichund es zu genießender Sinn des Gedichts
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Anfänge
Manche ersten Male passieren stufenweise, sodass es schwerfällt, sie zu berichten. Wo liegt die Grenze, ab der man sagen kann, dass man etwas getan hat, was es in seiner vorherigen, schwächeren Form noch nicht war? Wie kann man die Schwelle zwischen zwei Kategorien ausmachen, wenn man sich auf einem gestreiften Boden schrittweise vorwärtsbewegt? Wie darüber reden, wenn man keine Einzelheiten nennen möchte? Wenn einem hinterher – wenn es sich einem Extrem annähert und einer bestimmten Kategorie sicher zuzuordnen ist – bewusst wird, es verschwiegen zu haben?Kriminalität, Krankheit, Klimawandel, Schüchternheit, Sex – alles bewegt sich auf einem Kontinuum. Zuerst.
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28. August 2020
„it is funny, you will be dead some day. / By you the mouth hair eyes,and i mean / the unique and nervously obscene // need;it’s funny. They will all be dead“ – E. E. Cummings Goethe wäre an diesem Tag 271 Jahre alt geworden. L. wird heute 24. Er sitzt jetzt mit Freunden auf der Terrasse und genießt die letzten Stunden seines Geburtstags. Ich wäre gerne dabei, mitfeiernd, dass es ihn gibt. Es ist ein Wunder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er am Tag seiner Geburt ein winziges, schrumpeliges Geschöpf war, wie Goethe, wie jeder, wie ich. Er muss schon mit Lachfalten auf die Welt gekommen sein.Ich kann…
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Damit aufgewachsen
Meine Großtante hatte noch ein Telefon mit Wählscheibe, das ich als Spielzeug betrachtete, mein erstes Handy hatte meinem Großvater gehört und das einzige Spiel, das ich damit spielte, war Snake. Bis ich in die achte Klasse kam, besaß ich ein robustes Schiebehandy mit Tasten, die man für einen Buchstaben teilweise drei- oder viermal anwählen musste. Das Handy war für unterwegs, für den Notfall. Wenn ich telefonieren wollte, benutzte ich das Kabeltelefon zuhause. Ich drückte die Lautsprecher-Taste sowohl bei meinen Telefonaten als auch bei denen anderer. Heute nutze ich diese Funktion immer noch. Ich tippe den Lautsprecher-Button an und halte das Handy vor mich wie ein Buch; diese Distanz stellt die…
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Das Leben ist ein Konzert
Das Leben ist ein Konzert, bei dem der Sänger den letzten Song ankündigt. Verschwindet die Band, hält der Applaus an, bis sie noch einmal auf die Bühne kommt. In der Regel gibt es eine Zugabe, häufig zwei oder drei und manchmal sogar noch mehr. Von Genussmitteln loszukommen tut immer ein bisschen weh. Wir versuchen es mit Klassentreffen, Spielplätzen für Erwachsene, Wiedergabelisten. Was würden wir tun, wenn selbst nach dem Tod noch eine Zugabe käme? Würden wir unsere Erfahrungen auch dann versuchen zu wiederholen oder etwas komplett Neues ausprobieren, in dem Wissen, dass nichts identisch wiederholbar ist, mit der Weisheit einer Band, die neue letzte Lieder spielt – oder mit der…
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Flynn
Mein Cousin dritten Grades heißt wie ich. Gestern habe ich ihn kennengelernt. Bis vor kurzem wusste ich nicht, dass es ihn gibt. Er ist so alt wie ich. Wir haben dieselben Ururgroßeltern. Der Cousin unserer Großväter, der Stammforschung betreibt, gab uns die Nummer des anderen weiter. Wir trafen uns in einer Stadt, die zwischen meiner Geburtsstadt und seinem jetzigen Wohnort liegt. Als Flynn zur Bahnhofshalle kam, erkannte ich ihn und dass er mich erkannte, bevor ich das Muster des T-Shirts sah, das er mir beschrieben hatte. Wir hatten das gleiche Leuchten an uns, die gleiche Freude, einander kennenzulernen.Flynn bedeutet „Sohn des Rothaarigen“. Meine Mutter hat rotes Haar, aber wir beide,…
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VII. Schreiben
Schreibend kann ich alles sein. Schreiben vereint all meine Kindheitsträume. Schon bevor ich in die Schule kam, begann ich damit. Ich schrieb meiner Mutter Briefe, die nur sie entziffern konnte, wie sie meine ersten Wörter verstanden hatte. Ihre Schreibmaschine faszinierte mich; sie war orange wie meine erste eigene, die sie mir letztes Jahr schenkte. Ich bekam oft Notizbücher zum Geburtstag, in die ich meine ersten Geschichten und Reiseberichte schrieb. Ich war verrückt nach Geschichten, sowohl nach den Erzählungen anderer als auch nach meinen eigenen. In der vierten Klasse schrieb ich in mein Freundebuch unter Wenn ich groß bin, werde ich: „Schriftsteller oder Künstler“.
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VI. Therapieren
An meinem ersten Tag im Kindergarten weinte ich, als meine Mutter wegging. Die Erzieherin haute mir mehrmals auf die Finger und sagte, ich solle aufhören. Sie saß vor mir und forderte mich auf, die Hände hinzuhalten. Ich erinnere mich noch sehr gut daran. An dem Tag lernte ich, dass Menschen manchmal gemein sein können, anstatt zu trösten. An meinem zweiten Tag im Kindergarten (oder dem zweiten Tag, an den ich mich erinnere, vielleicht war es auch eine Woche später) weinte ein anderes Kind an seinem ersten Kindergartentag. Ich führte es herum und sagte, dass es normal sei, am ersten Tag traurig zu sein. Das machte es besser. Es ging mir…
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V. Fußball
Ich identifiziere mich nicht mehr damit, aber das Sommermärchen 2006, in dem mein bester Freund und ich im Fußballfieber waren wie gefühlt der ganze Rest Deutschlands, wir Flaggen malten, die wir auf der Straße verkauften, und in der Schule übernachtend auf großer Leinwand sahen, wie Deutschland gegen Portugal das Spiel um Platz 3 gewann, immer noch schwer enttäuscht nach der Niederlage gegen Italien; die Zeit, in der die Jungs mich als Torwart wählten, ich in jeder Pause im Tor stand und niemand die Bälle so gut hielt wie ich; der damalige Freund meiner Mutter, der mich zum Schalke-Fan und Bundesliga-Zuschauer machte; die Tickets für ein Spiel meiner Heimatstadt, die ich…
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IV. Komponieren
Als ich in die Pubertät kam, schrieb ich Liebeslieder, ohne verliebt zu sein. Ich schwärmte, ich wünschte mir, verliebt zu sein und diesen Traum drückte ich in Musik aus. Mit dem Klavier komponierte ich Melodien, ein paar davon hielt ich auf Notenpapier fest, aber meinen größten Song nicht – den nahm ich mit dem MP3-Player auf. Neulich bin ich wieder darauf gestoßen – ich habe das alte Ding immer noch, es passt überall hinein und wenn es die Treppe hinunterfällt, geht es nicht kaputt. Die Aufnahme enthält nur das Klavier, aber die ersten Verse könnte ich heute noch mitsingen, wenn ich das Klimpern der Tasten höre: „You came to me…
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III. Mathe
Zahlen waren mein Ding. In der Grundschule war ich beim Eckenrechnen Rechenkönig, in den Ferien arbeitete ich Zusatzarbeitshefte freiwillig durch, einfach weil es mir Spaß machte. Mathe war mein Lieblingsfach und ich ahnte, dass es stimmte, was die Großen sagten, und ich es immer brauchen würde. Studien zufolge hängt die Leistung in Mathe mit dem Selbstkonzept in Deutsch zusammen und umgekehrt (I/E-Modell), das heißt, je bessere Noten ich in Mathe habe, desto schlechter schätze ich mich in Deutsch ein und umgekehrt. Auf mich traf dieses Modell zu: Immer war eins der beiden Fächer bei mir vorne, am Anfang Mathe, bis ab der Mittelstufe Deutsch überholte und Ziffern Buchstaben, Zahlen Worten…
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II. Malen
Meine halbe Kindheit lang habe ich gemalt. Das bedeutet nicht, ich habe die erste Hälfte gemalt und dann aufgehört, sondern dass ich die Hälfte meiner Zeit darauf verwendet habe. Es war meine Lieblingsbeschäftigung. Dabei habe ich Kassette gehört, ich hatte Kisten voll Kassetten, die mein Vater mir von Flohmärkten mitgebracht hatte. Meine Oma zeigte mir, wie man Farben mischt und schattiert, dass Wiesen nicht eben sind und Palmenblätter nicht einfarbig, sondern auch Gelb und Schwarz. Den Traum, wie Oma mit einer Staffelei vor Mohnblumen zu sitzen, habe ich immer noch. Und vor Feldern zu stehen und die Landschaft zu malen.
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I. Etwas erfinden
Ich bin in der ersten Klasse. Wir sollen aufschreiben, was wir werden wollen. Die Vertretungslehrerin, die Direktorin, ist streng, ich nehme sie als gemein wahr, wir haben sie auch in Sport und sie zweifelt mein Reaktionsvermögen an. Ich denke nach, es macht mir Spaß zu denken. Und nach einer Weile weiß ich, was ich werden will, was nur der beste Beruf sein kann: Erfinder. Ich schreibe es auf. Die Lehrerin kommt vorbei und guckt. Sie zeigt nicht die Begeisterung, die meinem Traumberuf angemessen wäre, aber ich merke ihn mir. Ich werde etwas erfinden.
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Vergangene Träume
„I have had my dream – like others – / and it has come to nothing, so that / I remain now carelessly / with feet planted on the ground“, W. C. Williams, Thursday Wenn wir uns fragen, was unsere Träume sind – müssen wir uns dann auch fragen, was unsere Träume waren? Der kindliche Wunsch, auf dem Land zu leben, die jugendliche Sehnsucht nach der Großstadt – spielen sie noch eine Rolle, wenn wir erwachsen sind? Was ist mit den Frauen und Männern, die wir werden wollten – stecken sie noch in uns und warten darauf, großgezogen zu werden? Oder sind sie gegangen und werden uns nicht anklagen, ihnen…
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Die Wahrheit
„Beauty is truth, truth beauty“ – John Keats Die Wahrheit liegt in einem verspäteten Zug um 23:06 Uhr, der noch mindestens zwei Stunden braucht, bis er am Ziel ist, in einem Abteil, in dem es ruhig geworden ist, sich die Fahrgäste zurückgelehnt haben, die Arme verschränkt in den wachen Atemzügen der Klimaanlage, die für den Tag gemacht wurde. Ich friere, ohne zu zittern, ich habe keine Angst vor der Wahrheit des Zuges, der den Wunsch nach einem warmen Bett enttäuscht. Die Wahrheit ist schön wie der Nachthimmel, die Schwärze hinter dem Zugfenster, und dieses Schwarz ist wahr. Die Wahrheit ist frei von Illusionen und toten Sternen. Sie erscheint im uringelben…
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Abendlandschaft
ich bin ein Junge zusammengerolltauf einem Sitz am Fenstermit grünem Hoodie und lilaNagellack an Fingern und Zehensieh dir nur an wie schmutzig sie sindbarfuß schlafe ich die Kapuze obender Wanderrucksack leer der Kopfzur Scheibe der Schaffner kommtich habe ein Ticket
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Erich Kästner Haus für Literatur (Dresden)
„Wenn ihr kämt und nicht nur schriebt! / Doch man steht wie in der Wüste / und begafft die Bronzebüste / eines Gottes, den’s nicht gibt.“ – Erich Kästner, Sentimentale Reise Ich sitze auf einer Bank im Garten des Erich Kästner Hauses. Die Villa habe Kästners Onkel gehört, berichtete eine Mitarbeiterin in der Einführung zu Beginn. Kästner habe den Garten geliebt, er habe hier mit seiner Cousine gespielt und der Garten sei Schauplatz von „Pünktchen und Anton“ geworden. Heute besteht er zu einem größeren Teil aus Kieswegen, aber auch aus Rasen, Büschen, Bäumen und anderen Pflanzen, die den Spielplatz erahnen lassen, der er einmal war. Auf der Mauer sitzt ein…
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St Dunstan-in-the-East
ich bin nicht mehr wie andere Kirchenin mir hörst du Bienensummen, Blätterrasselnmein Weihrauch ist der Morgendunstdie Asche Londons nährt meinen Bodender Himmel, den du siehst, wenn du aufschaustein freier Kopf bringt Regen und Blumen
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Amor fati
„Einer von Nietzsches Lieblingsausdrücken ist amor fati (Liebe zum Schicksal) – in anderen Worten: Erschaffe das Schicksal, das du lieben kannst.“ – I.D. Yalom, In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet, btb Verlag, München 2008, S. 104 Heute, am heißesten Tag des Jahres, im bisher womöglich heißesten Jahr des Jahrtausends, bin ich die lange Straße entlanggelaufen, die ich früher sehr oft gegangen bin. Zwei Jahre lang habe ich an ihrem gefühlten Ende gewohnt, in dem sicherlich schönsten Gebäude der Stadt, einer alten Villa, die am Stadtrand den Bomben des Zweiten Weltkriegs entgangen war. Nun, ein Jahr nach dem Auszug, ging ich den eintönigen Weg zu…
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Schöne Dinge
„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ – Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass schöne Dinge oberflächlich seien. Die vorbeiziehenden Weinberge der Gegend, wo ich aufgewachsen bin, das Weizenfeld am Fluss und das schilfbewachsene Ufer, herzförmige Steine, ein Feuer im Sand und das abendhimmelblaue Wasser, ferner: die Seerosen Monets, das Lächeln eines Kleinkinds und die Augen des Geliebten, die Akte von Matisse, das Meer bei Nizza und die Handschrift Kafkas. All das kann ich sehen, aber es geht tiefer als bis zu der Stelle im Gehirn, wo ein Bild entsteht – es berührt mich.Ebenso verhält es…
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Fische
Wenn wir jung sind, liegen unsere Ängste noch offen, wie in einem klaren See, dessen Oberfläche sich kräuselt. Wie die Fische vertreiben, deren Antlitze uns schaudern lassen? Wir können Alkohol in den See kippen, Drogen, das ganze Plastik, das wir über die Jahre anhäufen, und Blätter voll Arbeit, bis der See trüb ist und wir die Fische nicht mehr sehen. Aber sie sind noch da, was uns immer ein leises Unbehagen bereiten wird. Manchmal streift uns etwas und wir erschrecken fast zu Tode. Wenn wir darauf kommen, dass es ein Fisch gewesen sein muss, können wir beschließen, ihn zu fangen – und es wird sehr viel schwerer sein als damals,…