Italien,  Reisen

In 12 Tagen um Sizilien

Hupen heißt hier in Palermo: Achtung, ich komme. Die Straße zu überqueren ist ein Abenteuer, aber nicht nur das. Ein Moped rauscht auf dem Bürgersteig an uns vorbei. Freunde haben uns vor dem Verkehr auf Sizilien gewarnt. Vor den Abgasen und dem Dreck in Palermo. Es stinkt und ist stickig, sommerlich warm Ende März.
Ein kleiner Käfig mit Wellensittichen hängt an einem Zaun. Wir gehen seitwärts über schmale Bürgersteige und weichen Hundehaufen aus. An einem der vielen Marktstände kaufen wir uns einen O-Saft, im Plastikbecher. Auch unsere Unterkunft stellt Plastikbecher bereit. Und das bei so viel Kunst, Kreativität und Ästhetik. Normannisch-arabisch-byzantinisch. Brunnen, Kirchen, Paläste. Street Art.

Wir sehen Werbeplakate für eine Virtual-Reality Klimt-Ausstellung. Medusenhäupter aus Porzellan in Schaufenstern. Einst zum Schutz vorne an Schiffen, um Feinde zu versteinern. Heute auf der sizilianischen Flagge.
Mitsamt Beton ausgerissene Pfeiler dienen als Parkplatzmarkierung für ein Moped. Wir entdecken die Großblättrige Feige, einen faszinierenden Baum, der Zweige als Stützen nach unten bildet und Kühle spendet.
In einer verlassenen Gasse sitzt und grüßt ein alter Gemüsehändler. Wir sehen niemanden betteln, aber eines Morgens hält ein Gemüsewagen vor der Tür und die Rufe des Händlers klingen, als bräuchte er Hilfe. Man schlägt sich durch, etwa mit frischgepressten Orangen. Ein paar Leute pflücken welche von einem Baum. Wir essen frittierte Reisbällchen namens Arancini, „kleine Orangen“.

In der Kapuzinergruft von Palermo sehen wir bekleidete und behaarte Mumien mehrerer Jahrhunderte.
„Wir waren, was ihr seid; ihr werdet sein, was wir sind“, wirbt die Gruft.
In einem gläsernen Sarg liegt Rosalia Lombardo, angeblich die schönste Mumie der Welt. Die Generalstochter war zwei Jahre alt, als sie 1920 an der Spanischen Grippe starb. Ihr Vater beauftragte einen Chemiker, sie zu konservieren. Noch heute glänzt ihr rotes Haar.

Vom Flughafen werden wir zu unserem Mietwagen gebracht. Der Gurt im Shuttlebus ist defekt. Die Autobahn wirkt im ersten Moment etwas sicherer als die Stadt, auch wenn das Tempolimit ignoriert wird. Wir halten es ein und werden dafür regelmäßig angehupt. Die soziale Norm, zu rasen, wiegt stärker als das Gesetz.
Unser Ziel ist das Landschaftsschutzgebiet Riserva naturale orientata dello Zingaro. Am 18. Mai 1980 demonstrierten 2000 Menschen erfolgreich gegen den dort geplanten Bau einer Autobahn und für den Erhalt dieses letzten ursprünglichen Landstrichs Siziliens. Dank ihnen wandern wir heute die schmetterlingsreiche Küste entlang und essen unseren Proviant auf einem Felsen am Meer.

Die westliche Küstenstadt Trapani wirkt angenehm untouristisch. An Karfreitag ist die Innenstadt dennoch voll Menschen in Sonntagskleidung. In einer Kirche stehen Plastikfiguren für die Prozession bereit. Über dem Hafen gleitet eine Möwe ohne einen einzigen Flügelschlag.

Wir sehen uns die Salinen an und ich lerne, wie Salz von Sand getrennt wird. Windmühlen schmücken die Landschaft. Warmer Wind pustet mich trocken, nachdem ich an einer menschenleeren Stelle nackt ins Meer gesprungen bin. Er bläst Sand auf den angebissenen Apfel, den ich so nicht mehr essen kann.
Wir holen uns ein Eis und laufen damit bis zu der Ruine, die wie eine Festung aussieht. Aber sie war mal eine Thunfischfabrik. Bausubstanz scheint auf dieser Insel niemals weggeräumt zu werden. So entstehen Lost Places wie dieser.
Hinter der Ruine läuft Klärwasser ins Meer. Nur ein Stück weiter bin ich untergetaucht, toll. Wir springen über Löcher im Beton wie in unserem Lieblingsvideospiel It Takes Two.

Von Trapani aus kann man normalerweise mit der Seilbahn ins mittelalterliche Bergdorf Erice fahren, aber als wir dort sind, fährt die Bahn nicht. Wir müssen die Serpentinen mit dem Auto nehmen. Google Maps leitet uns auf eine halsbrecherische Schotterpiste fehl. Erice ist voll Kunsthandwerk und Katzen, für die sogar ein eigener Park mit Katzenhäusern angelegt ist.

Auf der Weiterfahrt kommen wir am Tempel von Segesta vorbei, aber der Eintritt in archäologische Parks auf Sizilien ist teuer. Wir schießen von Weitem ein Foto, während ein Anzugträger aus seinem schwarzen Maserati steigt und den Motor laufen lässt.
Die Besichtigung der nächsten archäologischen Fundstätte Selinunt gönnen wir uns. Ob ich hier oder da die Überreste alter griechischer Tempel begehe, ist mir gleich. Selinunt liegt am Meer. Eine Schildköte überquert den Weg, weit hinten im Park, nur wir und sie sind so weit gekommen. Wir wundern uns, wie schnell sie ist.

Wir fahren weiter zu den Türkischen Treppen, eine Felsformation, auf die mir ein Blick reicht. An zwei Tagen sehen wir drei überfahrene Hunde am Straßenrand. Andere müssen wir anhupen. Sie haben sich auf die Fahrbahn verirrt, bleiben mit eingezogenem Schwanz vor uns stehen und schauen blutunterlaufen zu uns. Wie groß ist die Bindung der hier wohnenden Menschen an ihre Hunde und an das Leben?
Agrigent, die nächste Stadt, ist am Hang gebaut und kokettiert mit bunten Gassen und Treppen.

Ostermontag kommen wir mittags hungrig in Ragusa an. Einerseits schön, dass in der sauberen Neustadt wenig los ist. Andererseits gestaltet sich die Essenssuche schwierig. Zuerst landen wir in einem Restaurant, in dem Pferdepfleisch angeboten wird und es alle 30 Sekunden piept, wohl zur Abschreckung von Katzen, aber wir hören es auch. Dann finden wir eine Location, die ein Barbecue veranstaltet. In der Hitze von Sonne und Grill sind die Männer schlecht drauf, die uns Lasagne aushändigen. Mein Hypothalamus ist schon nach wenigen Sekunden Anstehen überfordert.

Nach dem bisschen Lasagne habe ich immer noch Hunger. Wir finden ein Café, das Eis aus der Tiefkühltruhe verkauft. Ich entscheide mich für ein Kekseis. Italien schmeckt für mich nach Madeleines, Lemon Soda und Kekseis. Daneben ernähren wir uns von Pizza und Nudeln, die wir in Unterkünften mit Küche selbst zubereiten und mit Mozzarella versehen. Nur mit Oliven ist nach drei Dosen Schluss.
Auf dem treppen- und serpentinenreichen Fußweg von der Neustadt zur Altstadt haben wir eine schöne Aussicht auf die alten Gebäude und ein grünes Tal. In der Altstadt ist deutlich mehr los. Im Park ergattern wir eine Bank. In den Seitengassen ist dagegen tote Hose. Da hängt eine Todesanzeige an einer Hauswand. Die Frau auf dem Bild wurde 96 Jahre alt.

An der Ostküste wird es sehr touristisch. Die Gegend wirkt gepflegter, fruchtbarer, aber auch künstlicher. Zwischen Ragusa und Syrakus sehen wir den Ätna mit seiner schneebedeckten Spitze zum ersten Mal, rauchend wie viele Sizilianer:innen.
In Syrakus ist der Verkehr nervenaufreibend. Auf der Altstadtinsel Ortygia probieren wir zum ersten Mal Cannoli, eine mit Schoko- oder Vanillecreme gefüllte Waffelrolle, die besser aussieht, als sie schmeckt.

Nach Palermo ist Catania die zweitgrößte Stadt Siziliens. Großstädtisch, vielleicht nicht ganz so prachtvoll, aber sauberer als Palermo. Auch hier gibt es historische Gebäude und eine Mumie: In der Kathedrale liegt in einem transparenten Sarg ein Kardinal, tot seit 1894. Das Kircheninnere ist so düster, dass ich mich frage, wie Gläubige an diesem Ort Hoffnung finden. Ein Mann sammelt barfuß in einem Brunnen Centstücke.

Mein Highlight ist eine Wanderung bei der Alcantara-Schlucht. Nachdem wir eine Truppe Quadfahrer überlebt haben, erreichen wir den Canyon. Die Brücke, die darüber führt, ist gesperrt, die Schlucht anderweitig zu überqueren, laut Schild lebensgefährlich. Kurz vor einem Wasserfall waten wir trotzdem durch den reißenden Strom, das Wasser ist stechend kalt. Den Felsen, den wir erobern, haben wir ganz für uns. Von hier gucken wir mindestens acht Meter in die Tiefe bis zum Grund des Wassers. Unter Wisterien, die hier vielerorts wachsen. Es dauert nicht lange, da bekommen wir doch Gesellschaft: Zwei Männer in Neoprenanzug, Schwimmweste und mit Helm rutschen den Wasserfall hinunter, einer rückwärts. Sie sammeln Müll und springen von einem Baum ins Wasser. Ich würde gerne in ihrer Haut oder zumindest in ihrem Neoprenanzug stecken.

Um wieder auf einen befestigten Pfad zu kommen, müssen wir mehrere Felsen hochklettern. Auch das überleben wir, trotz Dornen. Wir landen in Obstgärten der hügeligen Landschaft, auf deren zentralem Berg eine Burgruine thront. Zuerst halte ich die gelben Früchte für Zitronen, bis ich orangefarbene sehe, eine pflücke, schäle und blutroter Saft heraus tropft. Die Blutorange schmeckt herrlich süßsauer-vitaminreich.

Die nächste Unterkunft in Taormina würden wir aufgrund der katastrophalen Parksituation in der gesamten Stadt kein zweites Mal wählen. Taormina liegt direkt am Meer, nur etwa 200 Meter darüber. Wir haben Glück, als wir nach langer Suche eine legale Lücke am Straßenrand finden. Wir fragen uns immer noch, ob die fünf Euro Maut an der ersten Station Abzocke waren. Außerdem ist uns die Sonnenmilch ausgegangen. Nachdem wir in Supermärkten keine Sonnencreme gefunden haben, steht in dieser Hügelstadt, in der wir ständig Deutsch hören, ein Ständer UV-Schutz am Straßenrand, 30 Euro die Tube. Mit krebsrotem Nacken kaufen wir 30 Milliliter Anti-Aging Creme mit Lichtschutzfaktor 30 für 10 Euro. Aber der Ausblick lohnt sich.

In Messina machen wir es besser: Parkhaus, zwei Stunden Sightseeing, Unterkunft im Hinterland. Zuerst sehen wir als Street Art nackte Männer an einer Wäscheleine. Vor der Kathedrale bildet sich um kurz vor 12 eine Menschenmenge. Zufällig kommen wir pünktlich zum Glockspiel: Zuerst läutet die Frauenfigur die Glocke, dann brüllt der Löwe dreimal, gefolgt vom dreimaligen Krähen des Hahns und zuletzt wird ein Instrumental von Ave Maria in voller Länge abgespielt.

Auf dem Land leitet uns Google Maps ein zweites Mal fehl, diesmal auf einen Bauernhof, nachdem wir unser Leben erneut auf steilen Schotterpisten ohne Leitplanke riskiert haben. Wir müssen umkehren und erneut an den Kühen vorbei, deren Glocken wir noch hinter dem nächsten Berg hören.
Als wir endlich ankommen, empfangen uns ein Junge, möglicherweise dessen Großvater und drei bellende Hunde. Besonders der Dackel nimmt seinen Job ernst. Der Junge spricht Englisch, der Mann nicht. Sie zeigen uns das Kellerapartment, das muffig riecht, aber schön kühl ist. Bevor wir es uns in dieser Höhle gemütlich machen, gehen wir zum Strand. Der einzige Weg, der dorthin führt, ist die gehweglose Fahrbahn.
Am Meer sind wir allein. Ich trinke eine Lemon Soda, auf der „solo limoni siciliani“ steht, und gebe mich meinem Buch hin. In der Ferne sehen wir eine Insel, die aussieht wie ein Vulkan. Was sie, wie wir herausfinden, auch ist: Der Stromboli qualmt wie der Ätna.

In Cefalù liegt unsere Unterkunft mitten in der Altstadt. In der Innenstadt einen Parkplatz zu finden, für den wir keine 20 Euro hinlegen müssten, stellt sich schnell als unmöglich heraus. Wir parken etwas außerhalb und laufen 25 Minuten. Eine letzte Magherita in einem Hinterhofgarten, ein letztes Eis, das so lecker schmeckt, dass ich mir den Namen der Gelateria Sapore di Sale merke. Der gemütliche Badeort weist ebenfalls eine imposante Kathedrale auf. Ein Pfad führt über Felsen zum Strand, wo ich sogar ein paar Leute im Wasser sehe. Wir finden ein schattiges Plätzchen und auch ich wage mich hinein, wenn auch nur für fünf Schwimmzüge und zwei Tauchgänge. Auf den Felsen finden wir später im Sonnenuntergang unseren Thron. Morgen werden wir zum Flughafen Palermo fahren und sagen können, in 12 Tagen die ganze Insel umrundet zu haben.

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