#39 Oslo Teil 1 / Oslo Part 1
Aus dem Flugzeugfenster sehe ich unzählige Seen, Berge und Schneeflächen. In wenigen Stunden wirst du sie sehen. In wenigen Minuten werde ich in deiner Zeitzone landen und dich voll Vorfreude erwarten.
Vom Flughafen geht es mit der Bahn ins Zentrum Oslos. Der erste Blick in die Stadt erinnert mich an Helsinki, wobei hier mehr los ist. Personen stehen um einen Bronzetiger herum, ich gehe an ihnen vorbei zu den Haltestellen „A“ bis „D“. Ich brauche mehrere Minuten, bis ich die Haltestelle „S“ gefunden habe.
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From the plane window I see countless lakes, mountains and snowy plains. In a few hours you will see them. In a few minutes I will land in your time zone and await you full of anticipation.
From the airport I take the train to the centre of Oslo. The first glimpse of the city reminds me of Helsinki, although there is more going on here. People stand around a bronze tiger, I walk past them to stops „A“ to „D“. It takes me several minutes to find stop „S“.
Ich steige in die Straßenbahnlinie 12 zum Vigeland Park. Die Linie 12 ist für Sightseeing beliebt, hinter der Innenstadt fahre ich an schönen Villen vorbei. Das neue Nationalmuseum öffnet im Juni, Munchs Schrei bleibt Besucher*innen bis dahin verborgen. Stattdessen sehe ich mir Vigelands Skulpturen an.
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I get on tram line 12 to Vigeland Park. Line 12 is popular for sightseeing, behind the city centre I pass beautiful villas. The new National Museum opens in June, and Munch’s cry will remain hidden from visitors until then. Instead, I look at Vigeland’s sculptures.
Die einzige Essensmöglichkeit weit und breit scheint in dem Café neben dem Eingang des Parks zu liegen, wo ich 10€ für ein belegtes Baguette ausgebe. Danach laufe ich über die Brücke an nackten Bronzestatuen vorbei, die Männer, Frauen und Kinder in allen möglichen Posen zeigen.
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The only food option far and wide seems to be in the café next to the entrance to the park, where I spend €10 on a sandwich. Afterwards, I walk across the bridge past naked bronze statues of men, women and children in all kinds of poses.
Die Skulpturen stellen den Verlauf des Lebens dar, den Höhepunkt bildet offenbar der Tod:
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The sculptures depict the course of life, the climax apparently being death:
In der Ferne sehe ich eine Skisprungschanze.
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In the distance I see a ski jump.
Auf der kleinen Halbinsel des Weihers, wo Bronzebabys die Bäuche der Sonne entgegenstrecken, lege ich mich auf eine Bank, die zufällig dein Geburtsdatum trägt. Neben mir beißen sich Erpel fast die Füße ab. Wenn sich Enten, Möwen und Tauben um Brotkrumen streiten – wer gewinnt?
Nachdem ich eine halbe Stunde gelesen habe, fahre ich zum Hafen. Die Festung Akershus zieht mich an.
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On the little peninsula of the pond, where bronze babies stretch their bellies towards the sun, I lie down on a bench that happens to bear your date of birth. Next to me, drakes almost bite their feet off. When ducks, seagulls and pigeons fight over breadcrumbs – who wins?
After reading for half an hour, I drive to the harbour. I am drawn to Akershus Fortress.
Ich erkunde die Festung und lasse mich auch hier zweimal zum Lesen nieder.
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I explore the fortress and also settle down here twice to read.
Und dann schreibst du mir endlich, dass du im Zug zum Bahnhof sitzt. Zwanzig Minuten später sehen wir uns wieder und es passiert, was John Green in Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? beschreibt, wenn zwei den Blick auf etwas Drittes richten: „Unsere Blicke trafen sich. Ich fühlte mich ruhiger. Ich dachte an die Menschen, die ich gewesen war, und wie sie für Augenblicke wie diesen gekämpft und gerackert und überlebt hatten. Als ich mit Sarah über die Salzwüste blickte, schien sich diese zu verändern – die bedrohliche Gleichgültigkeit wich von ihr.“
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And then you finally write me that you are on the train to the station. Twenty minutes later we meet again.
Das Smarthotel heißt nicht so, weil es besonders intelligent ist, sondern weil die Räume etwa so groß wie Smarts sind. Im bequemen Gemeinschaftsraum finden wir Schachspiele und eine Art Tisch-Eisstockschießen, das wir mit zwei anderen Deutschen spielen.
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The Smarthotel is not called that because it is particularly smart, but because the rooms are about the size of smarts. In the comfortable common room we find chess games and a kind of table curling, which we play with two other Germans.
Wir sehen uns die Oper und Bibliothek an. Ich verstehe nicht viel von Architektur, aber die Oper soll wohl einen Eisberg darstellen. Wir laufen ihr Dach hoch, das am Boden beginnt, und stellen uns an die künstliche Klippe à la Caspar David Friedrich, der nie weiter als bis Kopenhagen gekommen ist. Am rechten Ufer sehen wir Menschen ins Wasser springen und aus dem Wasser in die Sauna gehen. Schade, dass wir keine Badesachen dabei haben.
In der Bibliothek herrscht eine für Bibliotheken ungewöhnliche Geräuschkulisse. Es gibt unbequeme Sessel und englischsprachige Klassiker. Es gibt sogar Einzelkabinen, in denen man sich eine DVD ansehen kann. Fast alles, was ich schon getan habe, habe ich schon einmal allein getan; nur bin ich noch nie irgendwo allein hingegangen, um mir einen Film anzusehen. Alleine im Kino oder in einer solchen Kabine würde mich das Alleinsein vermutlich bedrücken, anders als im Wald, Museum oder Café.
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We go to see the opera and the library. I don’t know much about architecture, but the opera is supposed to represent an iceberg. We walk up its roof, which starts at ground level, and stand on the artificial cliff à la Caspar David Friedrich, who never got further than Copenhagen. On the right bank we see people jumping into the water and going out of the water into the sauna. It’s a pity we didn’t bring our bathing suits.
The library is unusually noisy for libraries. There are uncomfortable armchairs and English-language classics. There are even individual booths where you can watch a DVD. Almost everything I’ve done, I’ve done alone; it’s just that I’ve never gone anywhere alone to watch a film. Alone in the cinema or in such a booth, being alone would probably depress me, unlike in the forest, museum or café.
Das königliche Schloss ist wenig prachtvoll, wird aber von der königlichen Norwegischen Garde bewacht. Den Wächtern hängen schwarze Schweife vom Hut. Ein Wächter unterhält sich sogar mir ein paar Tourist*innen.
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The Royal Palace is not very grand, but it is guarded by the Royal Norwegian Guard. The guards have black tails hanging from their hats. One guard even talks to a few tourists.
Beeindruckender als das Schloss ist das Rathaus von Oslo, in dem jährlich der Friedensnobelpreis verliehen wird. In dem Nobel-Friendenszentrum ein paar Schritte weiter kann man eine Ausstellung zu den Preisträger*innen besuchen.
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More impressive than the palace is Oslo’s City Hall, where the Nobel Peace Prize is awarded every year. In the Nobel Friendship Centre a few steps away, you can visit an exhibition on the laureates.
Die Halle bringt mich zum Staunen.
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The hall amazes me.
Das Rathaus liegt am Hafen, wo Fähren zu Inseln des Oslofjords abfahren. Gut zu wissen: Das Ticket der öffentlichen Verkehrsmittel in Oslo (Zone 1 umfasst alle auch entfernteren Bereiche, in die es uns zieht) ist für die meisten Fähren gültig. Wir suchen uns die Insel Lindøya aus, wollen unbedingt dorthin, obwohl es regnet. Auf der Fähre stellen wir uns an der Treppe zum Deck unter, die anderen Passagiere sitzen im Warmen, aber wir bevorzugen klare Sicht.
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The town hall is located at the harbour, where ferries depart for islands in the Oslofjord. Good to know: The public transport ticket in Oslo (zone 1 includes all the areas we are drawn to, even the more distant ones) is valid for most ferries. We choose the island of Lindøya, desperate to get there, even though it’s raining. On the ferry we shelter by the stairs to the deck, the other passengers sit in the warm, but we prefer a clear view.
Auf Lindøya stehen viele bunte Häuser und doch erscheint die Insel an dem Tag verlassen. Insgesamt begegnen uns vielleicht drei andere Personen. Wir fragen uns, ob Menschen hier leben oder nur Urlaub machen. Die Menschen, die sich länger hier aufhalten, haben auf jeden Fall etwas aus der Insel gemacht: Es gibt ein Fußballfeld, ein herunterhängendes Volleyballnetz, einen kleinen Supermarkt und einen selbstgebauten Minigolfplatz aus Autoreifen und Baumstämmen.
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There are many colourful houses on Lindøya, yet the island seems deserted that day. In total, we meet maybe three other people. We wonder if people live here or are just on holiday. The people who stay here longer have definitely made something of the island: there is a football field, a volleyball net hanging down, a small supermarket and a home-made miniature golf course made of car tyres and tree trunks.
Wir picknicken ausgiebig auf einer überdachten Bühne, danach geht es zehn Minuten durch den Wald. Die Zeit fliegt. Wir verpassen die Fähre und müssen statt einer Stunde anderthalb auf der Insel bleiben.
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We picnic extensively on a covered stage, then walk through the forest for ten minutes. Time flies. We miss the ferry and have to stay on the island for an hour and a half instead of an hour.
Zurück auf dem Festland stolpern wir über einen Stolperstein. Dass die Judenverfolgung bis hierher reichte, hätte ich nicht erwartet. Die Straße Damstredet lässt uns erahnen, wie Oslo früher aussah. Für einen Moment wünschte ich, ganz Oslo bestünde noch aus diesen hübschen Holzhäusern.
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Back on the mainland, we stumble across a stumbling block. I would not have expected that the persecution of the Jews had reached this far. The street Damstredet gives us an idea of what Oslo used to look like. For a moment I wish all of Oslo still consisted of these pretty wooden houses.
Holzhäuser gibt es übrigens auch in Vilnius.
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By the way, there are also wooden houses in Vilnius.
Auf dem Friedhof Vår Frelsers Gravlund liegen Edvard Munch und Henrik Ibsen begraben, eine Karte am Eingang zeigt, wo. Auch die Gräber weiterer offenbar bekannter Persönlichkeiten sind auf der Karte verzeichnet, aber unter den höchsten Büsten stehen nicht verzeichnete Namen. Zwei Gräber erinnern mich an „Harry Potter“.
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Edvard Munch and Henrik Ibsen are buried in Vår Frelsers Gravlund cemetery, a map at the entrance shows where. The graves of other apparently well-known personalities are also marked on the map, but there are unrecorded names under the highest busts. Two graves remind me of „Harry Potter“.
An Munchs Grab laufen wir fast vorbei, so bescheiden ist es für seine Berühmtheit:
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We almost walk past Munch’s grave, so modest is it for his fame:
Ibsens Grab ist schon weniger bescheiden und passt nicht ganz auf das Foto:
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Ibsen’s grave is already less modest and does not quite fit the photo:
Hier sollte ich einen Cut machen. Eine Freundin wies mich kürzlich darauf hin, dass sie meine Beiträge nur noch zur Hälfte liest, seit sie länger geworden sind. Teil 2 folgt in Kürze und wird sonniger, versprochen.
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I should make a cut here. A friend recently pointed out to me that she only reads half of my posts since they have become longer. Part 2 will follow shortly and will be sunnier, I promise.
Ein Kommentar
P S
Sehr schön geschrieben… den Hinweis auf die Länge der vorherigen Beiträge teile ich übrigens nicht… Gerade erst eingetaucht, muss man schon wieder auftauchen –