Irland,  Reisen

Irland Darlin‘

Mittwoch, 02.11.2022

Bevor eine Freundin nach dem Abi allein in Irland Bagpacking machte, sagte sie: „Freiheit spürst du erst, wenn du zitternd im Nordwind stehst. Du musst diesen Weg allein gehen, ohne Familie und ohne Freunde.“ Sie spielte darauf an, in einer anderen Stadt und einem anderen Land zu studieren. Beides habe ich gemacht. Ich bin alleine gereist. Es fühlte sich an, als bräuchte ich das, aber heute geht es mir anders. In meinem Alter lautet die Lebensaufgabe nach Erikson, Isolation zu überwinden und Nähe zu schaffen. Früher war Romantik, allein auf Felsen am Meer zu sitzen. Heutzutage ist sie etwas Zwischenmenschliches. Wie Christopher McCandless vor seinem Tod in Alaska notierte: „Happiness is only real when shared.“ Ich reise mit Rucksack und einer Freundin durch Irland.

Über Dublin kreisend, wird unser Flug aufgrund von Wetterverhältnissen, Koordinationsproblemen und Benzinmangel nach Manchester umgeleitet. Etwa eine Stunde sitzen wir dort fest, der Flug hatte schon vorher Verspätung. Das kostet uns drei Stunden.

Zurück nach Dublin.

Am Flughafen fragen wir einen Mann nach dem Bus. Er sagt, dass wir für diesen Münzen bräuchten. „Do you have coins?“
Wir hoffen, dass er damit Bargeld meint. Tut er aber nicht. Der Busfahrer will von uns Münzen sehen, ist aber so nett und lässt uns das wenige Kleingeld gegen zwei Fahrkarten tauschen.
Im Doppeldeckerbus gehen wir nach oben. Frische Luft weht durch das offene Fenster, niemand trägt Maske. Flaggen der EU-Länder wehen an der Autobahn, wie Flaggen der NATO-Mitglieder in Vilnius. Wir fahren an schlichten Einfamilienhäusern vorbei, an denen vereinzelt noch Spinnweben und Riesenspinnen hängen. Auf manchen Fensterbänken heller Wohnzimmer stehen noch Kürbisse. Halloween kommt von hier.
In der Innenstadt Dublins erinnert mich der Bus an den Fahrenden Ritter. Er fliegt quasi durch die kreischende Stadt und bremst abrupt, als ich die Treppe heruntersteige, sodass auch ich fast fliege. Ich kann mich gerade so festhalten, der Arm wird dabei überdehnt.
Unser Hostel liegt direkt am Fluss, der Liffey, und dem Viertel Temple Bar, wo wir uns auf die Suche nach etwas Essbarem machen. Seit den 70ern sollte das Viertel einer Busstation weichen, der Tourismus hat es gerettet. Wir stoßen auf teure Restaurants, Pubs mit Live Musik, einen traditionellen Süßigkeitenladen und eine urige, holzvertäfelte Kneipe, die mich an den Tropfenden Kessel erinnert.

Schließlich landen wir in einem Burgerrestaurant, wo wir einen Burger mit Käse und Salat für nur drei Euro bekommen (mit Fleisch hätte er neun Euro gekostet), dazu Pommes und kostenloses Leitungswasser. Es läuft alter Rock.
Auf dem Weg zum Hostel betreten wir die Temple Bar, die es unter anderem Namen angeblich schon seit 700 Jahren gibt, etwa so lange wie Vilnius. Das Viertel trug den Namen zuerst.

Die Temple Bar.

Die Temple Bar ist weihnachtlich geschmückt, Christbaumkugeln hängen von der Decke, der Sänger spielt Gitarre und seine Begleitung Flöte. Auch in den Pub Oliver St John Gogarty werfen wir einen Blick. Dort werden mit Gitarre und Geige irische Klänge erzeugt. In einem Souvenirshop läuft schon Weihnachtsmusik. Eine Stadt mit gutem Geschmack.


Donnerstag, 03.11.2022

Ob die weiße Ha’penny Bridge vom Bauunternehmen der Titanic konstruiert wurde? Dieses Jahr wurde sie 206.

Ha’penny Bridge über der Liffey.

Das Trinity College liegt auf unserer Flussseite. Junge Frauen in Talaren tragen Doktorhüte. Ein Gebäude ist von außen beplanzt. Sein Labor scheint der biologischen Fakultät anzugehören.

Trinity College.

Oscar Wildes Elternhaus, Kneipe um die Ecke und Park vor der Tür liegen in unmittelbarer Nähe. Das Bildnis des Dorian Gray war früher eins meiner Lieblingsbücher. Yeats ist auch von hier.

Oscar Wilde auf der Bank im Schatten.
Oscar Wilde im Park.

Wir machen eine Free Walking Tour. Der Leiter trägt einen grünen Regenschirm. In seiner Freizeit schreibt er Theaterstücke. Die Tour dauert drei Stunden. Wir erfahren interessante Anekdoten, etwas dass die „Castle“ Draculas Autor inspiriert hat. Und dass eine Königin mit einem Mann namens Fitzgerald (ich lese den Namen des großen Schriftstellers immer wieder) einen heißen Schriftwechsel führte. In einem Brief berichtete sie ihm von einem erotischen Traum, der an Seen spielte. Fitzgerald legte daraufhin auf seinem Anwesen Seen an. Die Königin besuchte ihn und betrachtete die Seen fünf Minuten lang. Dann sagte sie, im Traum seien sie größer gewesen. Sie schrieben einander nie wieder.

Castle.

In einem Torbogen der Castle sehen sich ein Königskopf und ein Bischofskopf an. Bei dem Bischof handelt es sich um St. Patrick, der als Missionar nach Irland kam und die christliche Kultur dort begründete. Heute wird Saint Patrick’s Day vielerorts von Iren, Emigranten und anderen gefeiert.

Rechts St. Patrick.

Im Park vor der Burg steht eine Bronzebüste, die Veronica Guerin darstellt. Guerin war eine Kriminaljournalistin, die von Drogenbossen in den 90ern erst an- und dann erschossen wurde. Drogen stellten zu dieser Zeit ein großes Problem in Irland dar. „Be not afraid“, steht auf ihrem Denkmal.

Alkohol spielte in Irland schon im Jahr 1875 eine tragische Rolle. Damals kam es zu einem Whiskeybrand, ausgehend von einem Lagerhaus im Zentrum der Destillerien. Dabei floss Whiskey durch die Straßen. Niemand starb am Feuer, aber 13 Menschen vergifteten und verbrannten sich tödlich am Whiskey, den sie vom Boden nahe der St. Patrick’s Cathedral tranken.

St. Patrick’s Cathedral.

Zwischendurch machen wir eine Guiness-Pause in einem Pub in Temple Bar. Ich trinke kein Bier, lerne aber etwas über die Herkunft des Guiness-Buchs der Rekorde.

Temple Bar bei Tageslicht.

Später fahren wir zum ehemaligen Gefängnis Kilmainham Gaol. Die Tickets sind ausverkauft, aber wir dürfen trotzdem an der einstündigen Führung teilnehmen. Wir werden zu den Zellen der Insassen geführt, die sich mit Gewalt für die Unabhängigkeit Irlands einsetzten. Über den Zellen stehen ihre Namen und die Jahreszahl 1916. Ihre und andere Einzelschicksale werden erzählt. Der jüngste Insasse war drei Jahre alt, nachdem Betteln verboten worden war und viele Obdachlose ins Gefängnis wollten. In der Gefängniskapelle fand ein einziges Mal eine Trauung statt. Der Bräutigam wurde wenige Tage später hingerichtet.
Der Lichthof erinnert mich an den Film Die Verurteilten, obwohl er nicht zu den Blockbustern gehört, die hier gedreht wurden. U2 und Sinéad O’Connor nutzten die Akkustik des Raums. Zum Schluss stehen wir draußen an der Stelle, wo die 14 Anführer des Osteraufstands 1916 hingerichtet wurden.

Kilmainham Gaol.

Am Abend besuchen wir die Grafton Street, die Ed Sheeran in Galway Girl erwähnt. Damien Rice und Glen Hansard gehörten früher zu ihren Straßenmusikern. When Your Mind’s Made Up, The Blower’s Daughter und 9 Crimes habe ich früher geliebt. An diesem Abend erfüllt eine etwa Sechzehnjährige mit rotem Haar die Straße mit einer großartigen Stimme.

Grafton Street.

Freitag, 04.11.2022

Im Bus von Dublin nach Galway halte ich nach Steinmauern Ausschau. Zuerst sind da nur Hecken, Schafe, Kühe. Erst kurz vor unserem Ziel, als ich schon nicht mehr damit rechne, säumen Steinmauern die Landschaft. Sie sollen bis zu tausend Jahre alt sein, bestehend aus losen Steinen. Faszinierend.
Das Gemüse-Curry im veganen Lighthouse Café tut nach zwei Tagen Nudeln und Burger richtig gut. Das Café ist hübsch, gut besucht und eng – meine Beine passen kaum unter den Tisch und blockieren die Hälfte des Gangs. In Irland liegt die durchschnittliche Körpergröße bei 171,8 cm, die Deutschen sind im Schnitt aber nur 1,5 cm größer.
Wir laufen durch die Innenstadt. Auch hier sitzt eine Statue Oscar Wildes auf einer Bank, macht ein Straßenmusiker gute Musik, kreischen Möwen.
Galway hat eine interessante Geschichte: Vom 13. bis 17. Jahrhundert wies die Stadt 14 einflussreiche Handelsfamilien auf. Die Wappen hängen noch immer am Marktplatz. Das Wort „lynchen“ kommt von einem Mitglied der Familie Lynch.

Galway.

Auf einer Bank vor dem Pub The Quays sitzt ein „Galway Girl“. Ed Sheeran ist nicht der Einzige, der von einem solchen singt, Steve Earle hat seinen Song „The Galway Girl“ schon im Jahr 2000 aufgenommen.
Mein Cousin dritten Grades Flynn hat hier im letzten Jahr seinen Master gemacht. Er ist jetzt ein Galway Boy. Seine Uni sieht wie eine Burg aus. Er hat mir die Salthill Promenade empfohlen.

Die Salthill Promenade ist lang, aber wirklich schön. Auf dem Spaziergang, eher eine Wanderung, erholen wir uns von der Reizüberflutung der Stadt. Architektur gegen Natur, Seeluft gegen Abgase, vereinzelte junge Menschen mit Kopfhörern gegen Menschenmassen.

Als die Füße schmerzen, besuchen wir das nächste Café, trinken einen Marshmallow-Kakao und nehmen den Bus zurück. Für den nächsten Tag buchen wir eine Tour zu den Cliffs of Moher, die den Burren einschließt.


Samstag, 05.11.2022

Der Busfahrer spricht von der Landschaft, den verschwindenden und wieder auftauchenden Seen, dem Torf, den Steinmauern, die sich über die Hügel ziehen ohne Zweck und der Großen Hungersnot 1845 bis 1849 infolge der Kartoffelfäule, der etwa 12 Prozent der irischen Bevölkerung zum Opfer fielen. Großbritannien griff dagegen nur wenig ein, was Hass schürte und Unabhängigkeitsbestrebungen förderte. Bis heute hat sich die Bevölkerung Irlands nicht davon erholt.

Die Menschen lebten damals in den kleinen, verfallenen Steinhäusern, an denen wir vorbeifahren. Die Wiesen sind noch zu dieser Jahreszeit neongrün und voll Schafe und Rinder. Ich kann nicht sagen, wann ich zuletzt eine so schöne Landschaft gesehen habe, ob überhaupt jemals. Den ersten Stopp legen wir an einer Burg ein.

Von dort geht es weiter zu einer Höhle. Dafür müssen wir extra zahlen, die Höhle lohnt sich aber nicht. Zwei Stalaktiten, zwei Stalagmiten (warum wird das eine mit K, das andere mit G geschrieben?), zwei Wasserfälle, ein Kilometer. Immerhin haben wir von dort eine gute Aussicht. Ich bin froh, wieder ans Tageslicht zu kommen, und genieße sie noch kurz.

Dann geht es endlich zu den Cliffs of Moher. Der Busfahrer hört zum ersten Mal für zehn Minuten auf zu reden und lässt stattdessen irische Musik laufen. Anschließend sagt er, was vermutlich ohnehin schon alle wissen: Harry Potter und der Halbblutprinz wurde hier gedreht, die Szene mit Dumbledore und der Höhle. Ich weiß noch, dass ich über die hohen Wellen staunte, als ich den Film vor 13 Jahren zum ersten und letzten Mal sah, und dass ich dachte, dass ich wohl nie ein so gewaltiges Meer sehen würde. In echt sind die Klippen gewaltig, die Wellen gehen an dem Tag.

Das Wasser spritzt trotzdem bis zu uns hoch. Selbst hier sitzen im Abstand von vielleicht 100 Metern zwei Klippenmusiker, Geige und Akkordeon. Der Weg an den Klippen ist besser besucht als manche Einkaufsstraße.

Anderthalb Stunden haben wir zur freien Verfügung. Wir laufen die Klippen entlang, den Weg, den alle gehen und den eine Mauer aus Steinplatten vom Abgrund trennt. Plötzlich kommen wir an einen Zaun, an dem steht: „Sie verlassen jetzt den Besucherbereich. Ab hier große Gefahr.“ Dahinter geht der Weg aber genauso weiter wie bisher und wir ignorieren das Schild.

Mein Vater stand an der Kante und hat heruntergeguckt. Er bat mich, an ihn zu denken. Eine Freundin hat hinter der Mauer mit den Pfadfindern gezeltet, zwei Meter vom Abgrund entfernt. Ich bleibe auf dem Weg, muss aber bald wieder zurück. Die Zeit vergeht hier wie im Flug.

Bevor wir unseren letzten Halt an der Küste machen, essen wir in einem Restaurant eine Suppe. Auf den Felsen am Meer sind wir die einzige Reisegruppe. Wellen peitschen am Gestein ab. Zwanzig Minuten fühlen sich erneut zu wenig an. Es gibt eine Zeit zum Verweilen. Und es gibt eine Zeit für Fotos. Mehr Zeit hat man nicht.

Das Beste kommt zum Schluss. Wir fahren die Westküste am Meer entlang und ich komme aus dem Staunen über die traumhaft schöne Landschaft nicht heraus.


Sonntag, 06.11.2022

Im Bus von Galway nach Cork sind wir mit einem anderen Passagier die Einzigen. Das Lied aller Busfahrten ist The Boy With The Arab Strap von Belle and Sebastian.
Ein Mädchen aus dem Hostel, das ein Jahr in Cork studierte, hat uns Tipps gegeben. In einem Glockenturm dürfe man selbst die Glocke läuten. Nach Ankunft machen wir uns zur St Anne’s Church auf, der Eintritt ist uns aber zu teuer. Corks Straßen könnten auch irgendwo in Amerika sein.

Wir gehen in die Innenstadt, über den Fluss, wo Menschen noch draußen sitzen, holen uns Falafel im Sandwich. Eine Buchhandlung bestätigt, dass die Cover englischsprachiger Bücher schöner sind. Auch die Fassaden der Buchhandlungen sind hier schöner.

Unser nächstes Ziel ist die Uni, die in einem eigenen Park liegt. Die Anlage betreten wir durch ein herrschaftlich hohes Gittertor, ein paar Meter weiter fließt ein Bach. Die zentralen Unigebäude sind gothisch edel, ähnlich wie Hogwarts.

Uni.
Park nahe der Uni.

Das ehemalige Gefängnis sehen wir nur von außen und von dort nicht viel. Es ist zu spät, um es zu besuchen. Wir müssen den ganzen langen Weg zum Hostel zu Fuß zurück, immerhin am Fluss entlang.

Im Hostel machen wir eine Pause. Es ist das erste Mal, dass wir ein Zimmer für uns haben. Ich lese den seltsamen Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde, der zur inzwischen düsteren Stimmung draußen passt, und erledige dann mein Gedicht. Ein Freund und ich stellen uns jeden Monat eine Schreibaufgabe, diesmal soll ich ein Gedicht schreiben, dessen Verse nur sechs Zeichen haben. Ich mag keine Ein-Wort-Gedichte, schreibe aber:

Westen
Tasche
Wellen
Wiesen
Wolken
Schafe
Mauern
Ruinen
Rinder
Krähen
Hunger
Fiedel
Klippe
Schrei
allein

Später bekomme ich endlich meine Live-Musik. Das Mädchen aus dem Hostel hat uns The Oliver Plunkett empfohlen. Von außen sieht der Pub fancy aus, bestimmt eine Tourifalle. Innen reißt der junge Sänger mit Gitarre uns nicht vom Hocker. Wir gehen wieder.

Nach einem Burrito besuchen wir den klassisch irischen Pub von 1889 Sin é, der uns von dem Rezeptionisten im Hostel empfohlen wurde. Hier gefällt es uns sehr. Der Raum ist kuschelig warm, voll Menschen, fröhlichen Gesichtern und Stimmengewirr. Überall hängen Poster, Eishockey-T-Shirts, Konzertkarten, Sticker, Notizen, sogar an der Decke. In einer Ecke sitzen eine Geigerin, ein Banjospieler und ein Konzertina-Spieler im Kreis und machen irische Musik, die uns einlullt und schläfrig macht, trotz schwarzen Tees.


Montag, 07.11.2022

Heute ist ein Regentag. In einem gemütlichen Café des Corker Flussufers trinken wir Pfefferminztee. The Cure läuft in Dauerschleife, immer dieselben drei Songs. Auf der Suche nach Frühstück durchqueren wir den Englischen Markt.

Bei dem Wetter lohnt es sich nicht, zur Blarney Castle zu fahren. Stattdessen nehmen wir den 12-Uhr-30-Bus nach Dublin. Gegen Abend laufen wir durch Dublins Markthalle, deren Restaurants schon schließen. In der Nähe finden wir ein Burger-Restaurant.


Dienstag, 08.11.2022

Einer Empfehlung Flynns folgend, frühstücken wir im Bread 41 ein Kürbismuffin. Auf dem Weg dorthin kommen wir an der Feuerwehr, anderen interessanten Gebäuden und einer letzten wunderschönen Buchhandlung vorbei. Nach einer Woche habe ich mich fast an den Links-Verkehr gewöhnt, und daran, wie alle anderen über Rot oder das Fußgänger-Gelb zu gehen. Dennoch schaue ich zur Sicherheit noch einmal nach unten, wo entweder „LOOK LEFT“ oder „LOOK RIGHT“ steht wie eine Weisheit für Reisende.

Bread 41.

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