Auslandsjahr Vilnius

#25 Halloween, Allerheiligen und Allerseelen / Halloween, All Saints Day and Day of the Souls

Halloween (31.10.)

Von der „ESN Fright Night“ wurde uns die gruseligste Karaokeparty versprochen, die wir je erleben würden. In der Dämmerung machte ich mich in der Gediminas Avenue auf die Suche nach einem Kostüm oder wenigstens einer Maske. Am liebsten wäre mir eine einfache Kürbismaske gewesen, passend zu meinem orangefarbenen Oberteil (ich habe weder etwas Schwarzes noch etwas Glitzerndes oder sonderlich Schickes in meinen beiden Schrankfächern).
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We were promised the spookiest karaoke party we would ever experience by the „ESN Fright Night“. At dusk, I went in search of a costume or at least a mask on Gediminas Avenue. My favourite would have been a simple pumpkin mask to match my orange top (I don’t have anything black, glittery or particularly fancy in my two wardrobe compartments).

Gediminas Avenue. Auffallend viele trugen Schwarz. / A conspicuous number wore black.

Leider fand ich hier überhaupt nichts, sah nur andere mit Zauberhüten und in schwarzen Umhängen an mir vorbeiziehen. Auf dem Platz spielte wieder Musik – ein Saxophonist:
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Unfortunately, I found nothing at all here, only saw others with magic hats and in black cloaks pass me by. Music was playing in the square again – a saxophonist:

Ein paar Meter weiter tanzte eine hinduistische Gruppe im Kreis und sang „Krishna, Krishna“:
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A few metres away, a Hindu group was dancing in a circle and chanting „Krishna, Krishna“:

Auf dem Rückweg kam ich in Uzupis am Fluss an einer Menschenansammlung und geschnitzten Kürbissen vorbei:
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On the way back, I passed a gathering of people and carved pumpkins in Uzupis by the river:

Es sah toll aus. / It looked great.

An Häuser wurden Spinnweben und sich abseilende Spinnen projiziert:
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Cobwebs and abseiling spiders were projected on houses:

Im Wohnheim schminkte mich eine Freundin eine Stunde lang. Im Spiegel erkannte ich mich nicht wieder, war aber begeistert. Um kurz vor zehn machten wir uns mit zwei Freunden von ihr auf den Weg. Start der Party war schon um 20:30 Uhr gewesen. Warum können nicht alle Partys wieder um 20:00 Uhr losgehen, wie zu Zeiten unserer Eltern und Großeltern? Es zog mich eher ins Bett als auf eine Tanzfläche. Andererseits war ich seit der vierten Klasse nicht mehr auf einer Halloweenparty gewesen.
An der richtigen Adresse standen wir vor dem großen Eingang eines Casinos. Den kleinen Eingang zum „Mirage“ daneben übersahen wir fast. Das Gute an ESN Partys ist, dass der Eintritt für Erasmusstudierende frei ist. Unten an der Gaderobe drang mir „Dancing Queen“ entgegen, was mich an die letzte Karaokeparty erinnerte. Ich wollte sofort in den Raum.
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In the dormitory, a friend put make-up on me for an hour. I didn’t recognise myself in the mirror, but I was thrilled. At just before ten, we set off with two of her friends. The party had already started at 8:30 pm. Why can’t all parties start at 8 pm again, like in the days of our parents and grandparents? I was more drawn to bed than to a dance floor. On the other hand, I hadn’t been to a Halloween party since fourth grade.
At the right address, we stood in front of the large entrance to a casino. We almost missed the small entrance to the „Mirage“ next to it. The good thing about ESN parties is that the entrance is free for Erasmus students. Downstairs at the cloakroom, I heard „Dancing Queen“, which reminded me of the last karaoke party. I immediately wanted to get into the room.

Einige waren verkleidet. Das rote Bändchen, das ich dem- oder derjenigen mit dem besten Kostüm geben sollte, hatte ich mir um den Finger geknotet. Ein Mann war besonders gruselig und kunstvoll geschminkt.
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Some were dressed up. The red ribbon I was supposed to give to the person with the best costume was knotted around my finger. One man was particularly creepy and had elaborate make-up.

Der Raum war cool geschmückt, aber die Party nicht richtig in Gang. Es waren gar nicht so viele Leute da. Die Musik war zum Glück nicht so laut, wurde aber von den Karaokesänger*innen bestimmt, tönte stimmlos oder etwas unstimmig. Die Leute, mit denen ich da war, verschwanden immer wieder im Raucherraum. Ich folgte stattdessen den Blutstropfen und sah mir die Toilette an (ohne zu brechen).
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The room was decorated in a cool way, but the party didn’t really get going. There weren’t that many people. Luckily the music wasn’t that loud, but it was determined by the karaoke singers, sounded tuneless or a bit incoherent. The people I was with kept disappearing into the smoking room. I followed the blood drops instead and looked at the toilet (without vomiting).

Um 23:30 Uhr sagte ich meiner Freundin, dass ich mir ein Taxi zurücknehmen würde. Sie überredete mich, noch nicht zu gehen.
„Komm, wir tanzen“, sagte sie.
„Na, gut“, sagte ich. „Niemand tanzt wirklich, aber wenn du auch tanzt, bleibe ich.“
Wir gingen auf die Tanzfläche und tanzten als Einzige richtig ab. Das hat Spaß gemacht.
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At 11:30 pm I told my friend that I would take a taxi back. She persuaded me not to leave yet.
„Come on, let’s dance,“ she said.
„All right,“ I said. „No one really dances, but if you dance too, I’ll stay.“
We went out on the dance floor and were the only ones who really danced. That was fun.

Es währte aber nur fünf Minuten. Dann musste meine Freundin mit jemandem etwas klären und kam nicht zurück. Um 00:00 Uhr wurden die besten drei Kostüme gekürt. Mein Favorit gewann den ersten Platz. Damit endete die Karaoke, aber die Party ging weiter. Ich nutzte den Wechsel, um mich von meiner Freundin zu verabschieden. Sie saß wieder im Raucherraum, der gar nicht so unangenehm roch, wie befürchtet – vermutlich immer noch eine Geruchsstörung. Diesmal war ich nicht aufzuhalten. Bolt-Car, Schminke ab, ins Bett.
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But it only lasted five minutes. Then my friend had to sort something out with someone and didn’t come back. At 00:00 the best three costumes were chosen. My favourite won first place. With that, the karaoke ended, but the party continued. I used the change to say goodbye to my friend. She was sitting in the smoking room again, which didn’t smell as unpleasant as I had feared – probably still an odour disorder. This time there was no stopping me. Bolt-car, make-up off, into bed.

Allerheiligen / All Saints Day (1.11.)

In Litauen sind sowohl der erste als auch der zweite November Feiertage. Unikurse finden nicht statt, aber die Supermärkte sind dennoch wie an Sonntagen geöffnet. Traditionell glaubt man, dass die Seelen der Toten an diesen Tagen die Lebenden besuchen kommen. An Gräbern werden Kerzen angezündet, um die Toten zu ehren. Aus Deutschland kannte ich das nur im Kleinen – dass der eine oder die andere Wenige zum Friedhof geht und dort eine Kerze für verstorbene Verwandte entzündet. Hier verwandeln sich die Friedhöfe jedes Jahr in ein Lichtermeer.
Cozy hatte mir davon schon am Samstag im Verkiai Park berichtet. Wir kamen an der Kirche der Entdeckung des Heiligen Kreuzes vorbei:
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In Lithuania, both the first and second of November are public holidays. University classes do not take place, but supermarkets are still open as on Sundays. Traditionally, it is believed that the souls of the dead come to visit the living on these days. Candles are lit at graves to honour the dead. From Germany, I only knew this on a small scale – that one or the other few go to the cemetery and light a candle for deceased relatives. Here, the cemeteries are transformed into a sea of lights every year.
Cozy had already told me about this on Saturday in Verkiai Park. We passed the Church of the Discovery of the Holy Cross:

Dort befindet sich ein schöner Friedhof, wo schon ein paar Kerzen brannten.
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There is a beautiful cemetery where a few candles were already burning.

Cozy sagte mir drei weitere Dinge, die ich noch nicht wusste:
1. Die Litauer*innen beschäftigen sich recht viel mit dem Tod.
2. Litauen hat nach Südkorea die zweithöchste Suizidrate, besonders betroffen sind Männer mittleren Alters.
3. Litauen verzeichnet weltweit die höchste Rate Tuberkulosetoter.
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Cozy told me three more things that I didn’t know:
1. Lithuanians deal with death quite a lot.
2. Lithuania has the second highest suicide rate after South Korea, with middle-aged men being particularly affected.
3. Lithuania has the highest death rate from tuberculosis in the world.

Cozy kommt jedes Jahr zu diesem Friedhof und jedes Jahr missglückt es ihr, die Schönheit der Kerzen einzufangen. Am Abend des ersten Novembers schickte sie mir Bilder vom diesjährigen Anblick des Friedhofs:
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Cozy comes to this cemetery every year and every year she fails to capture the beauty of the candles. On the evening of the first of November, she sent me pictures of this year’s sight of the cemetery:

Im Supermarkt hatte auch ich eine Kerze des riesigen Kerzenstapels gekauft:
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In the supermarket, I too had bought a candle from the huge pile of candles:

Tagsüber hatte ich einen längeren Spaziergang durch den benachbarten Wald gemacht:
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During the day I had taken a long walk through the neighbouring forest:

Ich hatte nicht mehr vor, weit zu laufen, wollte zum Bernhardiner-Friedhof gut fünf Minuten vom Wohnheim entfernt. Dann klopfte aber eine Mitbewohnerin an die Tür und fragte, ob ich mich ihrer Gruppe anschließen wollte. Für den Kontakt zu anderen nahm ich die halbe Stunde Fußweg zum Friedhof Rasu in Kauf. „Rasu ist der berühmteste Friedhof von Vilnius, viele Politiker und Künstler sind dort begraben“, schrieb Cozy mir später. Ihn zu sehen hat sich wirklich gelohnt! Über zwei Hügel verteilt, ist er riesig.
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I didn’t plan to walk far, I wanted to go to the St. Bernard cemetery a good five minutes from the dormitory. But then a flatmate knocked on the door and asked if I wanted to join her group. For the contact with others, I accepted the half-hour walk to Rasu cemetery. „Rasu is the most famous cemetery in Vilnius, many politicians and artists are buried there,“ Cozy wrote me later. Seeing it was really worth it! Spread over two hills, it is huge.

Immer wieder tauchten auf Anhöhen neue Lichtermeere auf.
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Again and again, new seas of lights appeared on hills.

Auch mir gelang es nicht, das wahre, rote und gelbe Licht einzufangen. Schade. Es kommt so wenig zur Geltung.
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I did not succeed in capturing the true red and yellow light either. What a pity. It comes across so poorly.

Sterne, Himmel auf Erden. Ein Flugzeug, das sehr tief über uns herflog, muss den Friedhof für eine Stadt gehalten haben.
„Es ist eine Stadt“, sagte eine der beiden argentinischen Schwestern.
Es war bereichernd, zu fünft aus verschiedenen Herkunftsländern (Argentinien, Frankreich, Niederlande, Deutschland) dazusein. Wir berichteten uns gegenseitig von den Ritualen unserer Länder.
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Stars, heaven on earth. A plane flying very low overhead must have mistaken the cemetery for a city.
„It is a city,“ said one of the two Argentinian sisters.
It was enriching to be there, five of us from different countries of origin (Argentina, France, Netherlands, Germany). We told each other about the rituals of our countries.

Anders als in Argentinien, Deutschland und den Niederlanden, werden Gräber in Litauen nicht gemietet, sondern gekauft. Gräber werden nicht nach dreißig Jahren ohne neue Zahlung beseitigt, sondern bleiben unverrückt. An diesen Tagen werden sie berührt. Auf so gut wie jedem Grab steht mindestens eine Kerze. Zuerst habe ich vergeblich nach einem noch nicht besetzten Grab Ausschau gehalten. Auf dem zweiten Hügel standen weniger Kerzen. Auf seiner Rückseite war immer wieder ein Grab nicht besetzt. Jetzt musste ich die Kerze nur noch entflammen. Zuerst aber entflammte ich fast meine Hand, als ich den Deckel einer anderen Kerze zu lösen versuchte. Zum Glück trafen wir auf eine andere Gruppe, die uns mit einem Feuerzeug aushalf. Ich suchte mir für meine Kerze ein Grab aus, das bis auf eine halbverdorrte Rose sehr alt und vergessen schien:
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Unlike in Argentina, Germany and the Netherlands, graves in Lithuania are not rented but bought. Graves are not removed after thirty years without new payment, but remain unmoved. On these days are they touched. There is at least one candle on almost every grave. At first I looked in vain for a grave that was not yet occupied. On the second hill there were fewer candles. On its back side, there was always a grave that was not occupied. Now I just had to light the candle. But first I almost ignited my hand when I tried to loosen the lid of another candle. Luckily, we met another group who helped us out with a lighter. I chose a grave for my candle that seemed very old and forgotten except for a half withered rose:

Die Grabinschrift war nicht mehr lesbar. / The grave inscription was no longer legible.

Ein schönes Ritual, nicht nur der eigenen Lieben, sondern aller, auch unbekannter und ansonsten vergessener Toten zu gedenken. Vielleicht eins, das ich zurück nach Deutschland mitnehmen werde.
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A beautiful ritual to remember not only one’s own loved ones, but all the dead, even unknown and otherwise forgotten ones. Perhaps one that I will take back to Germany.

Allerseelen / Day of the Souls (2.11)

Heute habe ich mir eine zweite Kerze gekauft. Ich wollte auch den Bernhardiner-Friedhof sehen und einen Moment für mich alleine habe, in dem ich der Toten gedenke.
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Today I bought a second candle. I also wanted to see the St Bernard cemetery and have a moment to myself to remember the dead.

Silhouette des Engels auf dem Bernhardiner-Friedhof. Die Blätter in der Hand des Engels, die wir zusammen bei deinem Besuch gesehen hatten, als in Gemeinschaftsarbeit Laub gefegt wurde, waren welk. / Silhouette of the angel in St Bernard’s cemetery. The leaves in the angel’s hand that we had seen together during your visit, when leaves were swept in community work, were withered.

Wieder hatte ich Glück: Auf dem Grab mit dem Engel standen zwei offene Kerzen, an denen ich meine eigene Kerze entzünden konnte. Wieder stand auf fast jedem Grab eine Kerze, einige brannten nicht mehr. Auch das Grab mit der hübschen, jungen Frau auf dem zerbrochenen Foto, hinter dem in der Tiefe die Vilnia entlangfließt, war schon mit einer großen Kerze versehen worden:
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Again I was lucky: on the grave with the angel there were two open candles on which I could light my own candle. Again, there was a candle on almost every grave, some no longer burning. Even the grave with the pretty young woman on the broken photo, behind which the Vilnia flows along in the depths, had already been provided with a large candle:

Ich machte mich zum hinteren Teil des Friedhofs auf. Wind blies meine Kerze fast aus, ich musste die Hand davor halten. Plötzlich war ich allein. Es gruselte mir. Ich dachte an die offenen Gräber im hinteren Teil, die ich bei Tageslicht schon unheimlich gefunden hatte. Bis dorthin kam ich nicht (oder ich übersah sie in der Dunkelheit). Auch auf dem Grab, das ich schließlich fand, wehte gefährlicher Wind, aber meine Kerze hielt sich wacker:
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I made my way to the back of the cemetery. Wind almost blew out my candle, I had to hold my hand in front of it. Suddenly I was alone. It gave me the creeps. I thought of the open graves at the back, which I had already found eerie in daylight. I didn’t get as far as there (or I missed them in the darkness). There was also a dangerous wind blowing on the grave I finally found, but my candle held its own:

In Deutschland gilt die Beschäftigung mit dem Tod als möglicher Warnhinweis für Suizidabsichten bei Jugendlichen. Ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod das Leben bereichern kann. Carpe diem, carpe noctem. Gehaucht: „Carpe. Carpe.“ Den Grusel vor Friedhöfen bei Nacht, die Angst vor dem Tod werde ich wohl nie ganz überwinden. Aber ich kann sie und damit auch andere Ängste verringern oder zumindest besser akzeptieren, wenn ich mich ihr stelle.
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In Germany, dealing with death is considered a possible warning sign for suicidal intentions in young people. I believe that dealing with death can enrich life. Carpe diem, carpe noctem. Breathed: „Carpe. Carpe.“ The horror of cemeteries at night, the fear of death I will probably never completely overcome. But I can reduce it, and with it other fears, or at least accept it better if I face it.

Auch ohne religiösen Glauben finde ich es einfach schön, Menschen zu würdigen, die einmal gelebt haben.
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Even without religious beliefs, I think it’s just nice to pay tribute to people who once lived.

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