Reisen,  Skandinavien

Roadtrip durch Skandinavien Teil 1: Norwegen

Tag 1
Die Aufgaben sind klar verteilt: Du fotografierst, ich schreibe. Mit dem Wohnmobil zwischen den Lkws fährt es sich entspannt, Richtung Norden ist die Autobahn am ersten Ferientag nicht so voll, wie erwartet. Nur vor dem Elbtunnel staut es sich. Kurz vor der dänischen Grenze gehen wir zu Lidl. Auf dem Parkplatz ballert die Hitze. Wir kaufen Obst, Gemüse, Eier und Brot, haben den Wagen schon vorher vollgeladen mit Grundnahrungsmitteln und Konserven.
Hinter der Grenze sehen Landschaft und Gebäude gleich spannender aus. Mit einer App machen wir den nächsten Stellplatz aus, einen Bauernhof. Am hellen Backsteingebäude steht ein Rollator. Sonst parkt hier niemand. Wir überlegen kurz weiterzufahren, klingeln dann aber doch.
Ein alter Mann öffnet. Natürlich dürfen wir uns in den Hof stellen, sagt er, und als er unser Kennzeichen sieht: „Besser Deutsch als Englisch.“
Er schnappt sich den Rollator und führt uns durch eine Werkstatt zum Bad. Auf der Schreinerbank liegt eine Packung Zigaretten mit der Aufschrift „Rauchen ist tödlich“, daneben steht ein Aschenbecher, entsprechend riecht es. Aus einem Radio tönt „Hope This Song Is For You“ aus dem dänischen Netflix-Film, den wir vorgestern gesehen haben.
Für die Nacht nimmt der Mann gerne zwei 10-Euro-Scheine, vermutlich bekommt er dafür ein paar Kilometer weiter günstige Zigaretten. Hier in Hønsnap gibt es jedenfalls keine. Wir laufen einmal durch dieses Geisterkaff. Die Pferde des Hofes starren uns nach. Auf der einzigen Straße, keine zehn Minuten hin und zurück, begegnen wir niemandem, auch hinter den Fenstern erspähen wir nicht mehr als ein Modellschiff.
Der Weg Richtung grüne Hügel scheint eine Einbahnstraße zu sein. Das Gras darauf steht hoch. Ständig entdecken wir Zecken und Mücken an uns. Wir kommen an einem Baggersee vorbei und durch ein Waldstück, zwei Stunden später sind wir wieder im Wohnmobil, kochen uns Eiernudeln mit Hülsenfrüchten, essen eine halbe Gurke und fangen die Gemüsebrühe zum Trinken auf.
„Hoffentlich ist der Mann nicht dement“, sage ich, als ich ihn mit dem Rollator über den Hof tapsen sehe, zur Flagge, die der Nachbar bereits hinuntergelassen hat.
„Wir sind zwei, er ist einer“, sagst du.
„Wir sind zwei, die Welt ist eine.“


Tag 2
Am nächsten Morgen nehmen wir die Dusche, die wir im Gästebad kriegen, und fahren ab. In einer Birkenallee nimmst du dir vor, eine solche zu pflanzen. Je nördlicher wir kommen, desto kühler wird es. Dreieinhalb Stunden sind es bis Hirtshals, die Autobahn ist frei, baustellenfrei, junges Getreide, hellgrün, leichte Hügel, ein Rastplatz mit Spielplatz und kostenloser Toilette, sauber.
In Hirtshals nehmen wir den günstigsten Campingplatz, von dort sehen wir ein kleines Stück Meer, spüren dessen Brise, hören Möwen und haben mehr Privatsphäre als auf dem Campingplatz zwischen Leuchtturm und Strand, wo wir den Sonnenuntergang hätten beobachten können … Leider zu spät gesehen. Für das gesparte Geld gönnen wir uns ein Eis, zwei Kugeln mit Softeis, staubtrockenem Schokokuss und pinker Marshmallowcreme. Am Hafen stoßen wir auf ein Denkmal von in den 80ern verunglückten Seeleuten, in einer Wohngegend auf skurrile Skulpturen in Vorgärten, etwa eine Schwangere im Schneidersitz, ihr Bauch die Welt. Es ist kaum mehr los als in Hønsnap.
„Ich vermisse hier nur Bäume“, sagst du.
Die Dünen sind grasbewachsen. Am Strand legen wir uns in den Windschatten eines Bunkerbauteils, lesen und spielen Schach. Anschließend spazieren wir zu einem anderen Teil des Hafens. Wenig später liegen wir mit offener Heckklappe auf dem Bett und genießen die Aussicht: trockenes Gras, Schienen, Windräder und der Fährhafen.


Tag 3
Die Autoschlange vor uns bewegt sich nicht, weiter rechts werden bereits Tore zur Fähre geschlossen. Ein Tor mit nur zwei wartenden Wagen steht noch offen. Wir wagen es, fahren hin und check, wir sind durch! Hinter uns wird das Tor geschlossen.
Die Fähre nach Kristiansand schaukelt dich seekrank, auch mir wird leicht übel, ein Schiff am Horizont fixierend. Ein korpulentes Paar an der Fensterfront kommuniziert nicht, es frisst und trinkt gemeinsam, Pommes, Wurst und Fanta. Andere schlafen wie in der Wiege. Die Augen zu schließen, hilft mir gegen das Unwohlsein.
Als wir nach drei Stunden endlich wieder im Camper sind, essen wir eine Packung Tucs, dann geht es auf den makellosen Highway. Die Felsen, durch die Tunnel führen, sehen künstlich aus, wie im Freizeitpark. Schnell kommen wir auf sechs Euro Maut. Wir biegen auf eine mautfreie Straße ab und staunen über die Fjorde.
Nach einer Stunde finden wir unseren Fjord für den restlichen Tag und die Nacht. Eine Brücke führt zu einer paradiesischen Insel, die wir erkunden, zuerst einen ausgetretenen Pfad entlang, der an einem Stein endet. Dieser ist wie für unsere Picknickdecke gemacht. Der Pinienbaum, zu dem wir hochgucken, eignet sich zum Klettern. Wir steigen hinunter ans Wasser, sehen eine Traumhütte am anderen Ende des Fjords. Über den Rest der Insel können wir nur trampeln, es tut mir leid um das junge Grün, das sie überzieht.
Zurück zum Wohnmobil, Handtücher holen, über einen Steg ins Salzwasser, untertauchen, Wärme in Handtuch und Sonne finden, gebadet zu Abend essen und noch mal zur Insel, auf Felsen klettern, in der Abendsonne sitzen. Du erzählst mir die Schöpfungsgeschichte aus dem „Silmarillion“ und liest sie mir später im Bett vor. Wenn ich aus der Luke gucke, sehe ich immer noch den Fjord. Wir haben ihn für uns allein, kaum zu glauben.


Tag 4
Steht da einfach ein Lamm auf der Brücke, unter der wir durchfahren, und kaut. Meeresluft mitten im Land. Die Fähre von Lauvvik nach Oanes fährt halbstündlich, wir kommen erst beim vierten Mal drauf und nutzen die Wartezeit fürs Mittagessen. Praktisch, die Küche dabeizuhaben. Als wir uns am Anleger ein Eis holen, fragen uns zwei junge Männer aus Deutschland nach dem Weg, sie wollen nach Oslo und haben kein Navi.
Nach der Fähre ist es nur noch ein kurzes Stück bis zum Parkplatz „Base Camp“, von dem aus wir laufen müssen. Der Weg erinnert mich an das Felsenmeer, zu dem ich in der sechsten Klasse einen Ausflug machte. Wir kraxeln von Stein zu Stein, ich übervorsichtig. Vier Kilometer pro Weg, 600 Höhenmeter.
Die Aussicht in der Höhe auf die umliegenden Berge ist atemberaubend. Wir passieren drei Bergseen und bereuen, Badekleidung und Handtücher im Camper gelassen zu haben.
Plötzlich geht es links steil hinab, davor nur ein Kettengeländer mit Liebesschlössern. Nach zwei Stunden erreichen wir endlich das Ziel: den Preikestolen, Predigtstuhl. Ein Foto von uns beiden auf der Spitze, dann eine Überraschung: zwei Bekannte aus der Heimat.
Bei Antritt des Rückwegs sagt eine ältere Dame mit Nordic-Walking-Stöcken: „As the day goes on, I get stronger.“
Auf dem Rückweg lichten sich die Menschenmassen. Weiter unten hören wir die Engländerin ihrer Smartwatch diktieren: „Almost down. Fabulous hike.“
Beine und Füße schmerzen, die Kräfte schwinden. Als das Ende nur noch einen Kilometer entfernt ist, treffen wir die Männer vom Fähranleger wieder. Sie fragen, wie weit es noch sei und demonstrieren stolz eine Einkaufstüte, mit der sie notfalls auf dem Berg übernachten wollen.
Für die Nacht suchen wir wieder einen Platz am Wasser. Eine ganze Weile fahren wir Richtung Bergen, bis wir in Årdal am Ufer eines Fjords einen wilden Stellplatz finden. Wir waschen uns im Fjord, liegen dann bei geöffneten Hecktüren im Camper, essen Porridge und Kohlrabi, während wir das Abendlicht auf den Wellen, Berge und Seevögel beobachten. Ich habe Kopfweh und diktiere, du schreibst und passt die Formulierungen hin und wieder nach eigenem Ermessen heimlich an.
Als der Schwan am Ufer aussieht, als schliefe er, machen auch wir uns bettfertig. Es ist 22:37 Uhr und taghell.


Tag 5
Wachgeworden mit einem springenden Fisch. Dank passender Windrichtung keine Geruchsbelästigung durch die Kläranlage neben uns, eine winzige grüne Hütte. Es müssen die Kühe sein, die stinken.
Nach dem Frühstück und Kaffee aus dem Topf fahren wir weiter nach Norden. Bald erreichen wir die erste Fähre. Aus dem Lkw neben uns tönen Grunzen, Schreie und Trampeln, vielleicht auf dem Weg zum Schlachter. Im Regen, nebelverhangen, unter düsteren Wolken sehen die Fjorde aus, als könnte ihnen jeden Moment ein Seeungeheuer entsteigen.
Es geht über Serpentinen, Berge hoch und runter, oben laufen Schafe frei, ein Lamm passiert die Fahrbahn zu zwei größeren Schafen im Graben. Reißende Flüsse, durchsetzt von Steinen, ziehen sich durch Schluchten, Mittagessen machen wir an einem Wasserfall, auf den weitere folgen. Südseeblaue Seen, auf Gipfeln liegt Schnee. Ein Skilift führt über einen halsbrecherischen Hang.
An der zweiten Fähre kaufen wir uns im Supermarkt neues Brot und Obst. Alle zwei Stunden sind Ver- und Entsorgungsstationen ausgeschildert, wo wir den Camper entleeren und auffüllen können.
Am Wasserfall Steinsdalsfossen dürfen wir auf dem Touristenparkplatz nächtigen, zusammen mit zwanzig anderen Campern.


Tag 6
Auf der Fahrt zur Hochebene Hardangervidda kaufen wir Erdbeeren. Der Aufstieg führt durch das Tal der Wasserfälle. Gigantische Wasserfälle. Der Steinsdalsfossen ist nichts dagegen, obwohl wir ihn „unterwandert“ haben. An einem Wasserkraftwerk geht es entlang einer Wasserleitung hoch, die einer Tunnelrutsche ähnelt. Auf einem Felsen am reißenden Fluss, zwischen zwei Wasserfällen, essen wir kalte Nudeln. Über Steine kraxeln wir immer weiter in die Höhe. Oben angekommen, tragen wir uns in ein Gästebuch ein, das in einem Briefkasten am Baum steckt. Irgendein oder eine Dag. A. läuft hier offenbar regelmäßig hoch. Zurück gehen wir einen Kiesweg, der in die Knie geht.
Indre Arna ist das nächste Ziel. An einer Badestelle frieren wir bei 15°C schon an der Luft und zwingen uns unter Wasser. Die kurze Qual beschert uns Adrenalin, Glücksgefühle und Wohlbefinden.
Wir parken am Bahnhof, nur ein paar Schritte vom Zug nach Bergen entfernt.


Tag 7
Bergen: eine typisch norwegische, mittelgroße Stadt am Meer, sehr touristisch. Dient als Abwechslung zur Natur. Schnell merken wir: so sehr braucht es diese Abwechlung doch nicht.
Der Fischmarkt viel kleiner als im Reiseführer hervorgehoben. Wir essen ein teures Baguette mit drei verschiedenen Fischsorten.
Hanseviertel Bryggen: Hütten in Sonnenuntergangsfarben am Hafen. Ein Trödler mit zwei Antiquariaten, so vollgestellt, dass wir uns nicht hineintrauen.
Villenfakultäten führen zu einem Unihauptgebäudepalast mit Botanischem Schlossgarten, innen ein Café, in eine anatomische Ausstellung integriert. Im Foyer vier Tierporträts, früher hingen an ihrer Stelle aristokratische Spender, aber man betrachtet sich hier nicht mehr als der Natur übergeordnet.
Durch einen Tunnel fährt die Bahn in acht Minuten zwischen Bergen und Indre Arna hin und her. Wir nehmen die nächste zurück zum Camper und fahren noch zwei Stunden nach Norden. Die Landschaft entwickelt sich natürlicher, ruhiger, Industrie und Tourismus verblassen.
Nach einer Fährfahrt stellen wir uns an den Fjord neben eine weiße Holzkirche, die ein Friedhof mit schlichten Grabsteinen umgibt. Solche Friedhofskirchen wiederholen sich hier wie Fjorde.
Wir spielen Schach, lesen und empfangen Astra 19,2E mit der Satschüssel.


Tag 8
Nach sechs Tagen bekommen wir an einer Tankstelle endlich wieder eine warme Dusche. Eine Herde freier Ziegen begegnet uns im Gebirge, langsam fahren wir vorbei. Am türkisfarbenen See Loenvatnet dasselbe mit Kühen. Plötzlich geht die Straße in einen Privatweg über, dessen Nutzung einige Kronen zum Einwerfen kostet. Die haben wir nicht und lieber wandern wir die 6,5 Kilometer zum babyblauen Gletscherarm Kjenndalsbreen.
Auf dem Rückweg sind wir nach zwei Kilometern über ein herannahendes Auto glücklich, strecken den Daumen raus und trampen mit einem netten, kanadischen Paar bis zum Camper. Ich frage, ob es in Kanada ähnlich sei. Sie sagen, bei Toronto, wo sie herkämen, sei es wärmer. Die Westküste sei ähnlich zu Norwegen. Bevor wir aussteigen, machen die beiden noch ein Foto mit uns.
Die Kühe von der Hinfahrt sehen wir in einem Anhänger wieder. Als wir durch Loen fahren, staunen wir über den steilsten Skilift der Welt. Die schmalen Straßen entlang und durch unzählige Tunnel fahrend, fühle ich mich wie Jim Knopf mit Lukas, dem Lokomotivführer, in der Lok Emma in Lummerland.
Wieder an einem Fjord parkend, geht es für uns ins Schlummerland.


Tag 9
Heute machen wir die Biege nach Osten, Richtung Schweden. Grasbewachsene Dächer im ganzen Land, Häuser wie Chamäleons getarnt. In höheren Lagen niedrigere Berge, Geröll und Gebirgssee. Die Elch-Warnschilder nehmen zu, aber wir sehen keinen Elch, nur Pferde, Schafe, Ziegen und Kühe, diesmal nicht in freier Wildbahn. An einer weißen Friedhofskirche auf einem Hügel halten wir, besuchen sie von innen, ein gemütlicher Raum, blau und aus Holz, auch der Geruch, es gibt eine Spielecke für Kinder. Aufgrund des Camping-Verbotsschilds am Parkplatz fahren wir weiter, durch einen kupferfarbenen Fichtenwald. An einem Fluss finden wir schließlich einen Stellplatz, zwischen zwei anderen Wohnmobilen.
Wir brechen zu einem Abendspaziergang auf, über eine Brücke, Schienen, durch ein Dorf, dessen verrottete Statuen inklusive einem kaum noch erkennbaren Gaststättenbär und geschlossene Läden erahnen lassen, dass es einmal florierte. Selbst die Bibliothek sieht zu aus. Eine Telefonzelle fungiert als öffentliches Bücherregal. Über allem prangen vier verschieden große Holzsprungschanzen und ein Wasserfall, unspektakulärer als der Steinsdalsfossen.
Einige Häuser am Dorfrand wirken unbewohnt, bunte Kleinbusse seit Ewigkeiten nicht gefahren. Du wirfst die Frage auf: Wer fuhr sie zuletzt und was dachte er sich dabei? Wir sehen frischgeborene Lämmer im Schatten eines Schafs, auf der nächsten Weide dutzende Rehe. Keinen Elch.
Vielleicht haben wir ab morgen in Schweden bessere Chancen.

Zur Fortsetzung: HIER.

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