Deutschland

Da ba dee Norderney

Was für ein viel zu heißer, aber schöner Sommer, dieser Sommer ’22. Mit dem Semesterticket, Bus und Bahn, geht es durch Deutschland: Zurück in die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, zu meiner Familie und meinen längsten Freund*innen. An geheime Orte, wo nur ein Bus hinfährt. Auf eine mehrtägige Radtour an der Weser entlang, an einem Bahnhof lese ich: „Ein Reisender ist jemand, der sein Leben in vollen Zügen genießt.“

Ich ergattere den letzten Sitzplatz und fahre zum ersten Junggesellinnenabschied in meine erste Studienstadt. Unser Lieblingsclub ist immer noch da, vor dem Kiosk am Unihauptgebäude stehen sie Schlange. An den Wochenenden zelten wir auf dem Land, radeln rüber nach Holland für Vla (bester Pudding der Welt) oder bekommen Besuch, unter der Woche bin ich endlich wieder nützlich. Mit italienischen Liedern auf dem Ohr radle ich zum Praktikum am Uniklinikum. Manchmal lege ich mich vorher oder nachher an den See, über dessen Brücke ich täglich hinwegfliege, und lese ein richtig gutes Buch. Diesen Sommer lese ich nur richtig gute Bücher, höre nur richtig gute Musik.

Sechs Stunden am Tag rekrutiere ich Proband*innen, führe mit ihnen diagnostische Interviews und neuropsychologische Testungen durch und begleite sie zum MRT. Ich sehe ihre Gehirne und spreche mit ihnen, wenn sie in der Röhre liegen, wie ein Radiosprecher, aber am liebsten höre ich mir bei den Interviews an, wie ihre letzten Jahre seit dem letzten Messzeitpunkt verlaufen sind. Ich frage sie nach Stimmung, ungewöhnlichen Erlebnissen, Ängsten, Zwängen, Gewohnheiten und extrem schrecklichen Dingen und vergebe Diagnosen – für die Forschung. Wenn die riesige Studie, bei der ich vier Monate mitwirken darf, nur einen kleinen Beitrag für die Wissenschaft leistet, ist mein Verdienst winzig, aber immerhin: Ich bin eines der vielen Zahnräder, mit dem das Projekt vorankommt, das darauf abzielt, die Ursachen psychischer Erkrankungen besser zu verstehen, und das reicht schon, um meinem Karriereanspruch gerecht zu werden. Für eine Weile jedenfalls.

Nach der Arbeit muss ich nicht mehr nützlich sein. Ich kann mich auf die Halbinsel an den Kanal legen, der nur drei Fahrradminuten von meiner Wohnung entfernt liegt, und hineinspringen, wenn mir trotz des Schattens der Getreidesilos zu heiß wird. Zu Hause spiele ich stundenlang Gitarre und manchmal auch Klavier. Roibostee mit einem Schuss Hafermilch ist mein Lieblingsgetränk für die Couch geworden. Endlich sind wir alt genug, um die Disneyfilme und Mord-und-Totschlag-Serien unserer Kindheit noch einmal zu schauen.

Am Tag, als ich ein Vierteljahrhundert alt werde (ich sage lieber vier Sechzehntel), nutzen wir die (hoffentlich nicht) einmalige Gelegenheit des Neun-Euro-Tickets ein letztes Mal und tuckern drei Stunden durchs wunderschöne Emsland nach Norden. Von dort geht es mit der Fähre nach Norderney. Mit diesem Foto, das auf der Rückfahrt entstanden ist, spule ich die Zeit zurück:

Norderney im Rückblick.

Auf der Insel angekommen, gibt es erst mal ein Fischbrötchen. Wo schmecken Fischbrötchen besser als am Meer, zu einer Brise Salz?

Wir erkunden die Insel und stoßen auf das vielleicht schönste Grundschulgebäude der Welt:

Auch ein schmuckes Postamt ist vorhanden:

Auf der Busfahrt zum Zeltplatz sehen wir Pferde. Ein Hengst besteigt eine Stute. Grüne Wiesen und Dünen weit und breit.

Auf dem Campingplatz, wo alle gut drauf sind und super freundlich grüßen, suchen wir uns ein freies Plätzchen und schlagen das Zelt auf. Die 20 Euro für eine Nacht sollen wir am nächsten Tag zahlen.

Anschließend spazieren wir durch die Dünen zum Meer. Dass ich Dünen und Nacktbaden liebe, ist kein Geheimnis mehr (sobald man das hier liest). Ich habe sogar ein T-Shirt, auf dem steht: No skinny dipping alone. Es ist niemandem aufgefallen, glaube ich.

Am Strand liegen alle paar Meter Feuerqualen [sic]. Schöne Wesen tun weh und sterben an der Oberfläche. Wir waten durchs Wasser an die Stelle, wo wir uns ganz ausziehen können. Außer uns sind dort nur dicke oder alte Menschen. Immer wieder treiben Quallen an uns vorbei. Wie wahrscheinlich ist es, eine zu berühren? Egal. Wir stürzen uns in die Wellen, lassen sie an uns brechen, tauchen hindurch, springen und schwimmen sie hoch. Nackt ist so viel besser.

Nach dem Abendessen in der gemütlich-touristischen Innenstadt noch ein Schokoladeneis auf einer Wiese im Sonnenuntergang, ein philosophisches Gespräch, der perfekte Tag.

In dieser Nacht ist der Saturn angeblich gut zu sehen. Auf dem Weg zu den Sanitäranlagen schaue ich später in den Sternenhimmel, aber sehe ihn nicht, stattdessen die Strahlen des nahen Leuchtturms. Im Zelt zieht mein Begleiter sein letztes Ass aus dem Ärmel: Geschichten von Astrid Lindgren. Er liest mir eine traurig-schöne („Der Drache mit den roten Augen“) und eine gruselige („Rupp Rüpel: das grausigste Gespenst aus Småland“) vor und nur durch die dünne Zeltwand vom Universum getrennt, schlafe ich wie ein Baby.

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