Auslandsjahr Vilnius

#45 Varškės sūrelis, Kirschblüten und Botanische Gärten / Varškės sūrelis, cherry blossoms and botanical gardens

Heute wurde mir mein letzter Magija-Vanilla-Riegel aus dem Kühlschrank geklaut. Wir brauchen Augen an den Kühlschränken. In einer Studie nahmen sich Personen weniger kostenfreien Kaffee, wenn ein Bild von einem Auge an der Wand hing, als wenn kein Auge präsentiert wurde. Menschen scheinen sich unter Augendarstellungen moralischer zu verhalten – wie unter Überwachungskameras.
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Today my last Magija vanilla bar was stolen from the fridge. We need eyes on the fridges. In one study, people were less likely to take free coffee when a picture of an eye was on the wall than when no eye was presented. People seem to behave more morally under eye displays – like under surveillance cameras.

Scherbe an einer Hauswand in Užupis. / Shard on a house wall in Užupis.

Varškės sūrelis ist ein mit Schokolade oder Zuckerguss überzogener Quarkriegel, den es in jedem litauischen Supermarkt in verschiedenen Sorten zu kaufen gibt. Seit ein, zwei Wochen futtere ich mich durch Karamell, Blaubeere, Straciatella und viele mehr. Vanille ist verschwunden, obwohl ich den Riegel hinter meinem Brotaufstrich im Gemüsefach versteckt hielt. Zum Glück hatte ich Schokolade, meine Lieblingssorte, schon gestern gegessen.
Mein hoher Sūrelis-Konsum rührt sicher daher, dass das Ende meiner Zeit in Vilnius naht. Ich mache, besuche, verschlinge die letzten Dinge und Orte auf meiner Liste. Von manchen, wie diesen Quarkriegeln, bekomme ich nicht genug.
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Varškės sūrelis is a quark bar covered in chocolate or icing, which you can buy in every Lithuanian supermarket in different varieties. For the past week or two I’ve been munching my way through caramel, blueberry, straciatella and many more. Vanilla has disappeared, although I kept the bar hidden behind my spread in the vegetable drawer. Luckily I had already eaten chocolate, my favourite, yesterday.
My high consumption of Sūrelis surely stems from the fact that the end of my time in Vilnius is approaching. I’m making, visiting, devouring the last things and places on my list. I can’t get enough of some of them, like these quark bars.

Noch mehr Kunst in Užupis.

Kirschblüten zum Beispiel. Sie blühten hier etwa einen Monat später als in Deutschland; ich sah noch vor wenigen Tagen welche. Am letzten Tag im April sah ich mir mit Cozy und tausenden anderen Menschen die Kirschblüten im Č. Sugiharos sakurų parkas an.
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Cherry blossoms, for example. They bloomed here about a month later than in Germany; I saw some just a few days ago. On the last day of April, I went with Cozy and thousands of other people to see the cherry blossoms in the Č. Sugiharos sakurų parkas.

Während des Lockdowns war dieser Ort zur Verbotszone geworden. Jetzt führte er uns das Ende der Masken und Abstandsregeln vor Augen. Das Virus, das mich zum Niesen gebracht hatte wie Pollen andere, schien verflogen, auch wenn es in diesem völlig überlaufenen Park bestimmt in der Luft lag. Wie in jedem Frühjahr war ich froh, das Blühen zu genießen, anstatt zu niesen.
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During the lockdown, this place had become a no-go zone. Now it demonstrated the end of masks and distance rules. The virus that had made me sneeze like pollen made others sneeze seemed to have faded, even though it was certainly in the air in this completely crowded park. Like every spring, I was happy to enjoy the blooming instead of sneezing.

Seit die Kirschblüten blühen, werden Corona-Tests in Litauen nur noch auf ärztliche Empfehlung durchgeführt. Nach einer Vorlesung, in der nur ich mit Maske dagesessen hatte, nahm ich diese ab. Im Bus streckte ich den Kopf aus dem offenen Fenster. Ich roch wieder Hundertjährige, Parfüm, Zigarettenrauch und Acetaldehyd, das krebserregende Abbauprodukt von Alkohol. Ein Baby strahlte mich an, versteckte sich hinter dem Kopf der Mutter und strahlte mich wieder an; vielleicht muss es niemals in seinem Leben eine Maske tragen.
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Since the cherry blossoms are in bloom, corona tests in Lithuania are only carried out on a doctor’s recommendation. After a lecture, where only I had been sitting there with a mask, I took it off. On the bus, I stuck my head out of the open window. I smelled centenarians again, perfume, cigarette smoke and acetaldehyde, the carcinogenic breakdown product of alcohol. A baby beamed at me, hid behind its mother’s head and beamed at me again; perhaps it will never have to wear a mask in its life.

Kirschblüten im Regionalpark Pavilniai (fast vor meiner Haustür). / Cherry blossoms in Pavilniai Regional Park (almost on my doorstep).

Eines Morgens sah ich im nahegelegenen Wald ein Pferd auf der verwunschenen Koppel stehen, die ich sonst immer leer vorfinde. Das Pferd trug eine Decke und kam zu mir an den Zaun. Als ich es streichelte, wehrte es entweder mich oder die Fliegen ab, die es umschwirrten. Das Halfter saß schief. Das Pferd lief eine Runde und kam wieder zu mir, wehrte die Fliegen ab und lief dann wieder eine Runde. Ohren und Kopf ließ es dabei etwas hängen. Es sah mir nach, als ich ging.
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One morning in the nearby forest I saw a horse standing in the enchanted paddock that I usually find empty. The horse was wearing a blanket and came to me at the fence. When I stroked it, it fought off either me or the flies buzzing around it. The halter was crooked. The horse ran a round and came to me again, fought off the flies and then ran another round. Its ears and head drooped a little. It looked after me as I walked away.

Kurz darauf sah ich ein Reh den Waldweg überqueren. Wir beobachteten uns lange von Weitem und ich fragte mich, wie ich es als Jäger übers Herz gebracht hätte, ein Reh zu erlegen.
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Shortly afterwards I saw a deer crossing the forest path. We watched each other from a distance for a long time and I wondered how I, as a hunter, would have had the heart to kill a deer.

Suchbild: Wo ist das Reh? / Search picture: Where is the deer?

Es ist unglaublich, wie grün es im Wald und auf dem Bernhardiner-Friedhof geworden ist.
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It is unbelievable how green it has become in the forest and in the Bernardine Cemetery.

Mein Wald. / My forest.
Bernhardiner-Friedhof. / Bernardine Cemetery.

Neben dem Friedhof liegt ein Garten voll Tulpen, den eine alte Frau pflegt:
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Next to the cemetery is a garden full of tulips, tended by an old woman:

Es gibt ein wunderschönes Gedicht von Friederike Mayröcker zu der Bäume „grüner üppiger Schönheit“: „wie groß wie klein bedenkst du wie kurz / dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume“. Und: „du brauchst ein Haus / keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach“. HIER geht es zum ganzen Gedicht.
Angesichts meiner kurzen Zeit in diesem Land und generell auf diesem Planeten bin ich zum Balsys See, dem größten See der Green Lakes, gefahren. Es war der 21. Mai, Außentemperatur 18 Grad, in meinem neuen Temperaturempfinden allerdings gut 20. Ich stieg aus dem Bus, ging die Straße entlang, genoss die grüne, üppige Schönheit, die Pusteblumenpollen, die zu mir wehten, den Anblick von Flieder, Kirschblüten und Gärten vor einsam gelegenen Häuschen.
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There is a beautiful poem by Friederike Mayröcker about the trees‘ „green lush beauty“: „how big how small you think how short / your life you compare it to the life of the trees“. And: „you need a house / none for yourself alone only a corner a roof“.
Given my short time in this country and on this planet in general, I went to Balsys Lake, the largest lake in the Green Lakes. It was the 21st of May, outside temperature 18 degrees, though in my new sense of temperature, a good 20. I got off the bus, walked down the road, enjoyed the green, lush beauty, the pollen of dandelions wafting towards me, the sight of lilacs, cherry blossoms and gardens in front of lonely cottages.

Nach etwa zehn Minuten erreichte ich das Strandgelände, wo zwei muskulöse Männer oberkörperfrei Volleyball spielten und zwei Frauen mit einem Kind zwischen ihnen an der Hand am Ufer entlang gingen. Keine Menschenseele war im Wasser. Ich lief über den Sand zum Steg, zog mich an den Holzliegen aus und legte meine Sachen ab. An der Leiter streckte ich den Fuß ins Wasser und zog ihn wieder heraus. Das Wasser war definitiv zu kalt zum Baden. Blöd nur, dass „im See schwimmen“ auf meiner Liste stand und bis zu meiner nahenden Rückkehr nach Deutschland so viel schlechtes Wetter angesagt war, dass nun vermutlich meine letzte Chance dazu war.
Ich ging vom Sand aus hinein. Zuerst nur bis zu den Kniekehlen. Ich spürte, wie sich meine Blutgefäße zusammenzogen und dachte daran, dass ich sterben könnte, wenn ich ganz hineinginge. Neulich hatten wir im Wohnheim einen Tag lang nur eiskaltes Wasser gehabt, das unter der Dusche Kopfschmerz verursachte. Ich hatte es mit einem Kneippbecken verglichen und das Wasser dieses Sees war nichts anderes.
Es dauerte, bis ich es bis zur Badehose schaffte. Nachdem ich den Oberkörper mit den Händen befeuchtet hatte, glitt ich ganz hinein und schwamm los. Mit den Schwimmzügen wurde es nicht viel wärmer. Mein ganzer Körper fühlte sich taub an, aber der See sich immer noch sehr kalt. Ich schwamm bis zu dem Häuschen am Steg, keine 25 Meter.
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After about ten minutes I reached the beach area where two muscular men were playing volleyball topless and two women were walking along the shore with a child between them by the hand. Not a soul was in the water. I walked across the sand to the jetty, undressed at the wooden loungers and took off my clothes. At the ladder, I stuck my foot in the water and pulled it out again. The water was definitely too cold for swimming. It was just a pity that „swim in the lake“ was on my list and there was so much bad weather forecast until my approaching return to Germany that now was probably my last chance to do so.
I went in from the sand. At first only up to the back of my knees. I felt my blood vessels contracting and thought that I might die if I went all the way in. The other day in the dormitory we had had only ice-cold water for a day, which gave me a headache in the shower. I had compared it to a Kneipp basin and the water of this lake was nothing else.
It took me a while to make it to my swimming trunks. After wetting my upper body with my hands, I slid all the way in and swam off. It didn’t get much warmer with the swims. My whole body felt numb, but the lake still felt very cold. I swam to the little house on the jetty, not 25 metres.

Balsys.

Aber ich schwamm. Auf dem warmen Steg durchströmten mich Glücksgefühle. Von einem Steg ganz für mich allein hatte ich immer geträumt. Ich legte mich an sein Ende und sah das Wasser unfassbar schnell vorbeiströmen. Ein Erpel witterte in mir offenbar eine Futterquelle. Sein grüner Kopf glänzte. Bald würde er braune Federn bekommen und Weibchen zum Verwechseln ähnlich sehen. (HIER könnt ihr über dieses Phänomen nachlesen.)
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But I swam. On the warm jetty, feelings of happiness flowed through me. I had always dreamed of a jetty all to myself. I lay down at its end and watched the water flow by incredibly fast. A drake obviously sensed a source of food in me. His green head shone. Soon he would grow brown feathers and look confusingly like females.

Ich löschte „im See schwimmen“ von der Liste, von der vor Kurzem auch „Botanischer Garten“ verschwunden war. Bei meiner Suche nach dem Weg zum Botanischen Garten im Vingis Park hatte ich festgestellt, dass es noch einen zweiten Botanischen Garten in Vilnius gibt, der wie jener im Vingis Park ebenfalls der Universität Vilnius angehört. Diesen weiter außerhalb gelegenen Botanischen Garten in der Kairėnų Straße suchte ich zuerst auf. Er ist der jüngere, aber auch größere der beiden und mit seinen zahlreichen kleinen Seen und seinem Reiterhof würde ich diesen empfehlen, falls sich jemand zwischen beiden entscheiden muss.
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I deleted „swimming in the lake“ from the list, from which „botanical garden“ had also recently disappeared. While searching for directions to the Botanical Garden in Vingis Park, I discovered that there is a second Botanical Garden in Vilnius, which, like the one in Vingis Park, also belongs to Vilnius University. I first went to this Botanical Garden in Kairėnų Street, which is located further out. It is the younger but also larger of the two, and with its numerous small lakes and horse farm, I would recommend this one if someone has to choose between the two.

Zuerst stieg ich den Aussichtsturm hoch. Ein Raum voller Kakteen stand auf dem Weg nach oben offen. Auf den Beeten arbeiteten Menschen mit Sonnenhüten. Ich war Anfang Mai dort und viel blühte noch nicht, aber was blühte, wäre später nicht mehr zu sehen. In den Botanischen Gärten finden häufig Hochzeiten statt, aber trotz des strahlend blauen Himmels kam ich mir dort ziemlich allein vor. Hinten erreichte ich eine Wiese voller Sträucher, unter die ich mich gerne gelegt hätte, aber Zecken sind auch in Litauen ein Problem.
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First I climbed up the observation tower. A room full of cacti stood open on the way up. People with sun hats were working on the beds. I was there at the beginning of May and much was not yet in bloom, but what was in bloom would not be seen later. The botanical gardens often host weddings, but despite the bright blue sky, I felt quite alone there. At the back I reached a meadow full of bushes, under which I would have liked to lie down, but ticks are a problem in Lithuania too.

Schließlich legte ich mich auf eine Bank an einem See. Frösche quakten. Im Schilf raschelte es, irgendwann schoss ein Entenpaar heraus.
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Finally I lay down on a bench by a lake. Frogs were squawking. There was a rustling in the reeds, and at some point a pair of ducks shot out.

Am Tag, als ich den Botanischen Garten im Vingis Park besuchte, war es ebenso sonnig. Auch dort zahlte ich drei Euro Eintritt. Auch dort waren die Pflanzen, von denen noch nicht allzu viele blühten, nur auf Litauisch beschriftet. Und auch dort arbeiteten Menschen wie in ihrem eigenen Garten. Eine Hollywoodschaukel, eine Bühne, besondere Kirschblütenarten, die zwei Frauen fotografierten, zwei Wasserhähne, die nicht funktionierten, ein Dixiklo. Drei chaotische bis verfallene Gewächshäuser. In einem Wasserbecken aus Stein schwamm ein Entenpaar. Es roch wie im Schrebergarten meiner Großeltern, am Anfang meines Lebens. Ich verwechselte Traubenhyazinthen mit Lavendel, legte mich daneben und hörte dem Summen der Bienen zu.
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The day I visited the Botanical Garden in Vingis Park, it was just as sunny. There, too, I paid an entrance fee of three euros. There, too, the plants, not too many of which were in flower yet, were labelled only in Lithuanian. And there too, people were working as if in their own garden. A Hollywood swing, a stage, special types of cherry blossoms that two women were photographing, two taps that didn’t work, a porta-potty. Three chaotic to dilapidated greenhouses. A pair of ducks swam in a stone water basin. It smelled like my grandparents‘ allotment garden at the beginning of my life. I mistook grape hyacinths for lavender, lay down next to it and listened to the buzzing of the bees.

Anschließend holte ich mir ein Eis, eine Kugel kostet in Litauen momentan 2,50€, und setzte mich ans Ufer der Neris, die direkt hinter dem Botanischen Garten liegt. Der Baum, der vor mir ins Wasser ragte, war wie ein Zelt.
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Afterwards I got myself an ice cream, a scoop costs €2.50 in Lithuania at the moment, and sat down on the bank of the Neris, which lies directly behind the Botanical Garden. The tree that jutted into the water in front of me was like a tent.

Fans roter Tulpen empfehle ich den Bernardinų sodas, der ebenfalls unter den Suchergebnissen erscheint, wenn man „Botanischer Garten Vilnius“ googelt, und im Gegensatz zu den Botanischen Gärten der Universität Vilnius sehr zentral liegt.
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For fans of red tulips, I recommend the Bernardinų sodas, which also appears among the search results when you Google „Vilnius Botanical Garden“ and, unlike the Vilnius University Botanical Gardens, is very centrally located.

Gyvenimas yra gražus.

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