Deutschland

Hamburg: Zwölf Orte, die du gesehen haben musst

Fünf Jahre ist es her. Am Hamburger Hauptbahnhof in die S-Bahn. Ich kenne die Richtung noch. Wer war ich 2018, als ich hier mein Praktikum machte? Dass ich hier mein Praktikum machte? Ich fuhr Psychose- und Suchterkrankte mit dem Auto zu Terminen, erkundete die Stadt mit einem viel zu kleinen Fahrrad, lag fast täglich nach dem Praktikum am Strand und frühstückte sonntags auf dem Fischmarkt. Meistens allein. Ich hatte von der Großstadt geträumt, seit ich mit zwölf auf dem Hamburger Dom (Volksfest) gewesen war.

Elbtunnel (2018)

An diesem Wochenende zeige ich meinem Freund meine Lieblingsorte. Zuerst den Elbtunnel. Runter nehmen wir die Treppe, hoch den Fahrstuhl. Mein Freund ist begeistert. Ein Jugendchor steht in der Mitte und singt ein Kirchenlied. Es ist viel los darin, auf der anderen Seite, an den Landungsbrücken und dem Fähranleger. Dreißig ältere Damen drängeln sich vor.

Mit der Fähre fahren wir bis Övelgönne. Das Wetter ist so gut wie in jenen acht Wochen im Spätsommer/Herbst, 22°C damals am 12. Oktober wie heute am 22. April. Neu ist der Frühling. Ein Fischbrötchen, dann im Sand liegen ohne Handtuch. Kräne zählen, Kinder und Hunde beobachten. Damals waren es auch Kreuzfahrtschiffe und ich schrieb:

Wenn du kommst, werden sie die Kameras zücken. Die Sonne wird durch die Wolken strahlen und unsere Gesichter werden einander zugewandt sein. Du wirst an mir vorbeiziehen und mich aufwirbeln und nicht mehr hingucken, wenn meine Stimmen noch über dich reden. Und wenn sie aufhören von dir zu sprechen, wirst du außer Sicht sein und ich werde daliegen und immer noch trocknen.

Övelgönne (2018)

Wir laufen den Villenweg zurück, an Flohmärkten, Chemielabor-Kunst und Bücherfensterbänken vorbei, die mich zu eigenen inspirierten. Die nächste Station ist die Sternschanze, der Schanzenpark voll Musik im Schatten des Schanzenturms. An meinem ersten Abend saß ich im Sonnenuntergang auf dem Hügel und aß einen Apfel. Ich schrieb darüber ein Gedicht mit dem Titel Aufbruch nach Ankunft:

losziehen künstler / wie der fleck an der hauswand / hochfliegen und runterwandern / das graffiti das künstlerviertel entlang / essen menschen karten / ein wegweiser zum park / zu anderen vierteln zum hafen / die band der backsteinturm / der hügel die sonne um 7 / die frau mit dem buch / das schmusende paar / die silhouette des mannes mit hut / der spielplatz die gangmusik / der sportplatz das gras / die altbauten und holzbuden / die blicke und parfums / dein geruch der erste tag

Schanzenpark (2018)

Am nächsten Abend, meinem 21. Geburtstag und ersten Praktikumstag, aß ich verbrannte Kumpir im Schanzenviertel. Wir laufen an dem Laden vorbei, er floriert wie das gesamte Viertel. Ich zeige meinem Freund, wo es das beste Frühstück gibt: beim Portugiesen Pastelaria Transmontana. Ihn interessiert vor allem die Rote Flora gegenüber.

Rote Flora (2023)

Um die Ecke gibt es eine neue, vegane Eisdiele. Wir kommen an Klimaaktivist*innen vorbei, die sich an die Straße kleben. Erst an jeder nächsten Ecke weiß ich, wo es weitergeht, aber ich finde den Weg zu meiner ehemaligen Unterkunft ohne Google-Maps und Umwege.

Rache für Afrin (2018), heute nicht mehr lesbar

Ich habe am Wohlers Park gewohnt und weiß noch, wie geflasht ich war, als ich den alten Friedhof das erste Mal betrat, den die alternative Szene zum Leben erweckt mit Akrobatik, Baumschaukeln und Picknick auf Gräbern. An einem verregneten Tag beobachtete ich dort eine Beisetzung.

Wohlers Park (2023)
Wohlers Park (2018)

Am Abend besuchen wir das Theaterstück Harry Potter und das verwunschene Kind. Wahnsinns Effekte, Zaubertricks, Sounds, großartig! Als die Dementoren kreischend über das Publikum schweben, kribbelt es mir in der Wirbelsäule, als küssten sie mich bis ins Mark.
In König der Löwen saß ich am Gang und hatte die Gänsehaut meines Lebens, als die Tiere direkt an mir vorbeiliefen, aber als in Harry Potter Lord Voldemort durch die Mitte läuft, bin ich froh, es bei diesem Stück nicht zu tun!

Am nächsten Morgen stehen wir früh auf, der Fischmarkt geht nur bis 9:30 Uhr. Dort frühstücken wir ein Fischbrötchen, in der Auktionshalle spielt eine Band Major Tom. Bananen werden versteigert. Früher gönnte ich mir zum Brötchen immer noch einen Saft und setzte mich damit ans Wasser zu den Möwen. Einmal ließ ich für fünf Euro eine weiße Taube fliegen, weil ich dachte, sie damit freizulassen, aber wahrscheinlich kam sie zurück. Ich fragte mich an dem Tag, ob ich wie diese Taube bin, dazu bestimmt zurückzukehren in die Gegend, in die ich einundzwanzig Jahre lang immer zurückgekehrt bin, die mir enger vorkommt als diese und wo meine Familie und die meisten meiner Freunde leben. Oder ob es sich dabei um eine Illusion handelte. Inzwischen bin ich in einer anderen Gegend gelandet und stelle mir diese Frage nicht mehr.

Fischmarkt (2023)

Wir kommen an einer kleinen Demo für die Ukraine vorbei. September 2018 war ich bei der Großdemo der Seebrücke dabei, zu 16.000 legten wir uns zum Schluss auf den Rathausmarkt. Jungfernstieg und Binnenalster kennt mein Freund schon. Lohnt es sich, zur Stelle zu fahren, von wo aus ich den Hafen das erste Mal sah? Oder Planten un Blomen, aber heute ohne Wasserspiele und Konzerte? Beim nächsten Mal.

Demo der Seebrücke (2018)
Hafen (2018)
Wasserspiele, Planten un Blomen (2018)

Nach einem ausgiebigen zweiten Frühstück im Hotel möchte ich lieber auch etwas Neues sehen: die Elbinsel Kaltehofe, für die an unserer Badezimmerwand geworben wird. Von dort bezog Hamburg früher sein Trinkwasser. Die alte Anlage mit Wasserbecken und Schieberhäuschen wurde inzwischen von der Natur zurückerobert und ist die Hinfahrt in einem Minibus wert.

Kaltehofe (2023)

Nachdem wir sie besichtigt haben, fahren wir auf die andere Seite der Elbe zu einer Großtante zu Kaffee und Kuchen. Wir essen Schokosahnetorte auf ihrem Balkon und streicheln eine der beiden Katzen, bis ihr in der Sonne offenbar zu warm wird und sie sich zurückzieht.
Die Großtante ist inzwischen über 80 Jahre alt und lädt uns zu einem Ausflug ein. Ich bin überrascht, dass sie noch Auto fährt. Vor zwei Jahren bin ich mit ihr noch Fahrrad gefahren. Vor einem Jahr musste sie die Räder nach einem Sturz verkaufen. Das Auto sei ihre letzte Freiheit.
Auf der Landstraße beschleunigt sie bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h auf 90, innerorts bremst sie auf 70 ab. In einer Dreißigerzone fährt sie 60 und immer wieder über den Mittelstreifen. Einen Radfahrer überholt sie bei Gegenverkehr. Über einen Kreisverkehr fährt sie durch die Mitte hinweg, an einem anderen schlägt sie links ein.
Unser erster Halt ist Buxtehude, das ich früher immer mit Blankenese verwechselt habe. Blankenese hat ein wunderschönes Villenviertel, aber Buxtehude ist auch hübsch, nur nicht mehr Hamburg, sondern Niedersachsen. Vergleich:

Buxtehude (2023)
Blankenese (2018)

Wir fahren wie vor zwei Jahren mit dem Rad über das Alte Land an Apfelplantagen und Orten vorbei, die ich schon kenne, darunter einem Ortsteil namens Königreich. An der hölzernen St. Martini-Kirche in Jork steigen wir kurz aus. Im Hofladen Obsthof Feindt trinken wir unter Kirschblüten Apfelschorlen. An der Elbe essen wir ein letztes Fischbrötchen, dann geht es zum Bahnhof und in den ICE nach Hause.

Hofladen Obsthof Feindt (2023)

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