#38 Holocaust-Ausstellung, Blutsee vor der russischen Botschaft und Blausterne auf dem Friedhof / Holocaust exhibition, lake of blood in front of the Russian embassy and blue stars in the cemetery
An den vielen bis zu 15 Grad warmen, sonnigen Tagen im März war ich fast jeden Tag auf dem Berg der drei Kreuze, habe die dünne Jacke aus dem Secondhandshop ausgezogen und mich darauf ins Gras gelegt, Musik gehört, telefoniert und gelesen. Da die Treppe immer noch abgesperrt ist und ich oft keine Lust hatte, noch ein ganzes Stück weiterzulaufen und den Hügel von der anderen Seite aus hochzugehen, musste ich ab der französischen Botschaft häufig kraxeln (wie man besonders in Süddeutschland und Österreich so schön sagt).
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On the many up to 15 degree warm, sunny days in March, I was on the Hill of the Three Crosses almost every day, taking off the thin jacket from the second-hand shop and lying down on it in the grass, listening to music, talking on the phone and reading. Since the stairs are still blocked off and I often didn’t feel like walking quite a bit further and going up the hill from the other side, I often had to scramble (as they say especially in southern Germany and Austria) from the French embassy onwards.
Oben angekommen, legte ich mich auf die Wiese:
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When I reached the top, I lay down on the grass:
Der Aufstieg wurde mit der besten Aussicht belohnt, die man in Vilnius haben kann, die auf diesem einzigen Foto, das ich gemacht habe, aber nicht zur Geltung kommt:
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The climb was rewarded with the best view you can have in Vilnius, but it doesn’t come into its own in this single photo I took:
In dieser warmen Zeit begann auch der Erasmus-Spanischkurs, in den ich mich eingewählt hatte. Erasmusstudierende geben die kostenlosen Sprachkurse, die leider erst etwa einen Monat nach Beginn des Semesters starten. Ich war von der ersten Stunde an begeistert – die Erasmusstudentin aus Valencia unterrichtet so professionell, wie ich es von „richtigen“ Lehrerinnen in Uni-Sprachkursen gewohnt bin. Zusätzlich mussten wir für die drei Lehrbücher, die uns per Mail zur Verfügung gestellt wurden, nicht zahlen. Ich freue mich jeden Dienstagabend, an dem ich mich in der Philologischen Fakultät auf einen dieser roll- und drehbaren Tischstühle setze:
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The Erasmus Spanish course I had enrolled in also started during this warm period. Erasmus students give the free language courses, which unfortunately only start about a month after the semester begins. I was thrilled from the first lesson – the Erasmus student from Valencia teaches as professionally as I was used to from „real“ teachers in university language courses. In addition, we didn’t have to pay for the three textbooks that were provided to us by email. I look forward to every Tuesday evening when I sit down on one of these rolling and swivelling table chairs in the Philology Faculty:
Als ich nach Litauen kam, war mir nicht bewusst, dass ich neben der litauischen Kultur und Sprache Einblicke in so viele andere gewinnen würde. Ich bin dankbar, zwei litauische Freundinnen zu haben – Begegnungen mit Litauer*innen sind ansonsten leider selten, da die englischsprachigen Kurse fast ausschließlich Erasmusstudent*innen besuchen. Aber mindestens genauso froh bin ich, japanische, singapurische, indische, französische, spanische, slowakische und georgische Kontakte geknüpft zu haben und immer wieder Menschen aus noch viel mehr Ländern zu begegnen. Nachdem eine Japanerin berichtet hatte, dass Japaner*innen kaum Sonnenbrillen tragen, um sich nicht als westlich zu outen, und die traditionellen japanischen Betten, die bereits zu etwa 70% von westlichen, gemütlicheren abgelöst wurden, flach auf dem Boden bereitet werden, erklärte sie mir, dass sie beim häufigen Schreiben von Haikus in der Schule und im Rahmen von Wettbewerben mehr beachten musste als die Silbenanzahl 5-7-5, die ich in Deutschland in einem Lyrikschreibkurs als einziges Haiku-Kriterium beherzigen musste. Haikus in Japan müssen zusätzlich zu dieser festgelegten Silbenzahl einen jahreszeitlichen Begriff (z. B. „Wassermelone“ für Sommer) enthalten und im passenden japanischen Alphabet – im formellen, im kalten/emotionslosen oder im einfachen/kindlichen – geschrieben sein. Allein dass es im Japanischen drei verschiedene Alphabete gibt, finde ich krass.
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When I came to Lithuania, I didn’t realise that I would gain insights into so many other cultures and languages besides Lithuanian. I am grateful to have two Lithuanian friends – meetings with Lithuanians are otherwise unfortunately rare, as the English-language courses are almost exclusively attended by Erasmus students. But I am at least as happy to have made Japanese, Singaporean, Indian, French, Spanish, Slovakian and Georgian contacts and to keep meeting people from many more countries. After a Japanese woman reported that Japanese people hardly ever wear sunglasses so as not to out themselves as Western, and that the traditional Japanese beds, which have already been replaced by Western, cosier ones by about 70%, are prepared flat on the floor, she explained to me that she had to pay more attention to the frequent writing of haikus at school and in competitions than the syllable count 5-7-5, which was the only haiku criterion I had to take to heart in a poetry writing course in Germany. Haikus in Japan have to contain a seasonal term (e.g. „watermelon“ for summer) in addition to this fixed number of syllables and be written in the appropriate Japanese alphabet – the formal, the cold/emotional or the simple/childish. The fact that there are three different alphabets in Japanese alone I find crass.
Einmal war ich mit der Japanerin auf dem Berg der drei Kreuze und natürlich bin ich nicht mit ihr gekraxelt, aber ein Stück ging es ein wenig abwärts und ich musste ihr die Hand reichen. Vorsichtig bewegte sich auch eine Singapurerin durch den Wald – in ihrer Heimat seien die Waldwege aus Sicherheitsgründen gepflastert, auf Straßen gebe es kein einziges Loch. Sie war erstaunt darüber, dass ich mich manchmal allein in den Wald wage. Noch erstaunter aber war sie über den Wald an sich. Anfang April ist es in Vilnius wieder sehr kalt, Ende März hat es noch einmal geschneit. Bis auf Kiefern sind die Bäume noch kahl, Knospen sehen teilweise aus wie verbranntes Popcorn. Es hagelte leicht. Aber die Singapurerin hatte noch nie einen solchen Wald gesehen und fand den in meinen Augen etwas tristen Waldweg wunderschön, sie fotografierte mehrere Stellen, darunter einen Strauch. Schon die Japanerin hatte das zarte Vogelzwitschern in Litauen mit den Kreischvögeln ihrer Heimat verglichen. Sie und die Singapurerin kennen eine ganz andere, tropische Vegetation. Die Singapurerin sprach von Moskitos und verhassten Affen, die Tourist*innen die Kopfhaut abreißen. Ich fotografierte ein verfallenes Haus, an dem wir vorbeikamen.
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Once I was with the Japanese woman on the mountain of the three crosses and of course I didn’t scramble with her, but there was a bit of a descent and I had to reach out to her. A Singaporean woman was also moving carefully through the forest – in her home country, she said, the forest paths were paved for safety reasons and there was not a single hole on roads. She was amazed that I sometimes venture into the forest alone. But she was even more surprised about the forest itself. At the beginning of April, it is very cold again in Vilnius; it had snowed again at the end of March. Except for pine trees, the trees are still bare, some buds look like burnt popcorn. There was light hail. But the Singaporean had never seen a forest like this before and found the forest path, which was a bit dull in my eyes, beautiful, she photographed several spots, including a shrub. The Japanese woman had already compared the delicate chirping of birds in Lithuania with the screeching birds of her homeland. She and the Singaporean know a completely different, tropical vegetation. The Singaporean woman spoke of mosquitoes and hated monkeys that tear off tourists‘ scalps. I took a photo of a dilapidated house we passed.
Außerhalb des Waldes blies uns eisiger Wind ins Gesicht und fühlten sich meine Hände schnell taub an. Wir liefen so lange dem Café in Uzupis entgegen, dass es eine echte Wohltat wurde, dort einzukehren. Ich war schon so viele Male an der Thierry Bakery vorbeigelaufen, ohne sie zu besuchen. Die lange Straße durch Uzupis ist für mich zu einer Durchlaufstraße geworden, die ich anfangs wunderschön fand und heute oft gerne überspringen würde. Mit ihren Geschäften und Cafés ist es wie mit vielen Läden in Vilnius: Sie fallen erst auf den zweiten Blick auf, wenn man bewusst durch die dunklen Scheiben späht. Tritt man hinein, werden – wie es häufig bei Introvertierten der Fall ist – die äußerlichen Erwartungen übertroffen. In der Thierry Bakery ist es heller und wärmer, als man von außen vermutet. An der Theke suchte sich die Singapurerin ein Pistazien- und ich mir ein Schokocroissant aus.
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Outside the forest, icy winds blew in our faces and my hands quickly felt numb. We walked towards the café in Uzupis for so long that it became a real treat to stop in. I had walked past Thierry Bakery so many times without visiting it. The long street through Uzupis has become a thoroughfare for me, which I thought was beautiful at first and would often like to skip now. Its shops and cafés are like many shops in Vilnius: you only notice them at second glance if you consciously peek through the dark windows. When you step inside – as is often the case with introverts – your external expectations are exceeded. The Thierry Bakery is brighter and warmer than one would expect from the outside. At the counter, the Singaporean chose a pistachio croissant and I a chocolate croissant.
Bei Kakao und Croissant erfuhr ich, dass Litauen knapp 90 mal größer als Singapur ist, Singapur aber gut doppelt so viele Einwohner*innen hat. Singapur sei klein und innerhalb einer Stunde durchfahrbar. Ich hörte von einer Straße, in der Kirche, Tempel und Moschee nebeneinander stehen, von guten, multikulturellen Restaurants, sah ein Foto von einer Straße, in der echte Bäume – nicht die bekannten künstlichen Superbäume – in akkuratem Abstand stehen, und ein Bild von der Silhouette der Stadt, deren Einwohner*innen von Häfen vom Meer getrennt werden. Um ans Meer zu kommen, sollte ich von Singapur, für das drei Tage ausreichend seien, weiter nach Indonesien, aber nicht auf das touristische Bali reisen, riet mir die Singapurerin, erwähnte Inselhopping und zeigte mir eine Vulkanlandschaft.
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Over cocoa and croissants I learned that Lithuania is almost 90 times bigger than Singapore, but Singapore has twice as many inhabitants. Singapore is small and can be crossed within an hour. I heard about a street where church, temple and mosque stand side by side, about good, multicultural restaurants, saw a photo of a street where real trees – not the well-known artificial super trees – stand at an accurate distance, and a picture of the silhouette of the city whose inhabitants are separated from the sea by harbours. To get to the sea, I should travel from Singapore, for which three days were enough, to Indonesia, but not to touristy Bali, the Singaporean advised me, called island hopping and showed me a volcanic landscape.
Ein weiteres Café, das ich in den letzten Wochen mit Cozy entdeckt habe, ist das Cuproom cffe mit einer Weltkarte des Kaffeeanbaus an der Wand. In Vilnius gehen die Orte, an denen man an kalten Tagen ein flüchtiges Zuhause findet, nicht aus.
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Another café I discovered in the last few weeks with Cozy is Cuproom cffe with a world map of coffee cultivation on the wall. Vilnius never runs out of places to find a fleeting home on cold days.
Meistens halte ich mich aber an die Cafés, die schon zu meinen Lieblingscafés geworden sind: Das Mint Vinetu, wo ich der Japanerin neulich Schachspielen beibrachte und die deutsche Ausgabe des Lyrikbands Die letzte Generation von Charles Bukowski kaufte. Im August 1990 (genau sieben Jahre vor meiner Geburt) hatte sie Ulrich Leinz aus Frankfurt am Main gehört. Auf die nächste Seite schrieb ich meinen Namen, Vilnius und März 2022 und drückte den „Mint Vinetu“-Stempel, der im Regal stand, darauf.
„But every generation probably thought they were the last“, singt The Big Moon in Your Light. In Charles Bukowskis Gedicht Nackt bei 33 Grad heißt es unter anderem: „Ein HEISSER Abend / an dem meine einzige Beschäftigung ist […] an / die atomaren ARSENALE / zu denken // neue unheilbare KRANKHEITEN“, „auch DU musst jetzt / darauf gefasst sein / für deine LIEBE / zu STERBEN“ und „heute muss man darauf gefasst sein / für NICHTS / zu / STERBEN“. Die gelblichen Seiten, die nach Marshmallow-Kakao und Staub riechen, lesen sich wie eine prophetische Flaschenpost. Apropos Flaschen, hier ein wenig Streetart:
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But I often stick to the cafés that have already become my favourites: The Mint Vinetu, where I recently taught the Japanese woman to play chess and bought the German edition of the poetry collection The Last Generation by Charles Bukowski. In August 1990 (exactly seven years before I was born) it had belonged to Ulrich Leinz from Frankfurt am Main. On the next page I wrote my name, Vilnius and March 2022 and pressed the „Mint Vinetu“ stamp on it that was on the shelf.
„But every generation probably thought they were the last“, sings The Big Moon in Your Light. Charles Bukowski’s poem Naked at 92 Degrees says, among other things: „little to do on a HOT night but swat at / small BUGS and consider the / STOCKPILES / even SEX now brings the threat of DEATH / through new and incurable / DISEASES / now YOU must be prepared to / DIE for your / LOVE“ and „now you must be / prepared to DIE / for / NOTHING“. The yellowish pages, smelling of marshmallow cocoa and dust, read like a prophetic message in a bottle. Speaking of bottles, here’s a bit of street art:
Das Depeche Coffee ist mein zweites Lieblingscafé, das ich am häufigsten besuche, weil es zentraler liegt als das Mint Vinetu und der Kakao dort am günstigsten ist. Oft sehe ich dort bekannte Gesichter – zuletzt meine französische Zimmernachbarin, die mich einlud, mich zu ihr zu setzen, obwohl sie schon auf halbem Weg zum Kino war. Sie wollte lieber „Morbius“ als Batman sehen, war damit unter Freundinnen aber die Einzige. Als sie mir Bilder von Morbius zeigte (HIER geht es zu ihnen), verstand ich, warum. Ich trank trotzdem schnell aus und fuhr mit ihr ins abgelegene Einkaufszentrum „Akropolis“, wo der Film gezeigt wurde, der meine Erwartungen weit übertraf. Ein weiterer Samstagabend, der sich gelohnt hat.
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Depeche Coffee is my second favourite café, which I visit most often because it is more centrally located than Mint Vinetu and the cocoa is cheapest there. I often see familiar faces there – most recently my French roommate, who invited me to sit with her even though she was already halfway to the cinema. She wanted to see „Morbius“ rather than Batman, but was the only one of her friends to do so. When she showed me pictures of Morbius (click HERE to see them), I understood why. Nevertheless, I quickly finished my drink and drove with her to the secluded shopping centre „Acropolis“, where the film was shown, which far exceeded my expectations. Another Saturday night that was worth it.
Am Samstagabend zuvor war ich mit einem Singapurer, Inder und drei Freunden des Inders aus dem Medizinstudium Billard spielen, was ebenfalls sehr nett war. Die Treppe des Billiard Clubs „Fuksas“ kam mir bekannt vor. Vielleicht ist es der Ort, wo ich während des Schüleraustauschs mit 16 kurz hereingeschaute, und der mich damals davon überzeugte, dass Vilnius sehr viel cooler ist als die Stadt, aus der ich komme und wo ich zum Billard immer in die nächste Stadt fahren musste. Der Singapurer und Inder, mit denen ich spielte, sind Mitglieder des neu gegründeten Schachclubs des Olandu Wohnheims, dessen abendlichen Treffen im Studyroom ich schon dreimal beigewohnt habe. Zu später Stunde wurden aus Schach Kartenspiele wie Uno und Bluff, zu denen sich jedes Mal gut zehn Leute gesellten. Besonders witzig war eine Runde Gartic Phone, wobei es merkwürdig war, am selben Tisch sitzend am Handy zu spielen.
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On the Saturday evening before, I was playing billiards with a Singaporean, Indian and three friends of the Indian from medical school, which was also very nice. The stairs of the billiard club „Fuksas“ looked familiar. Maybe it was the place where I had looked in briefly during the student exchange at 16, and which had convinced me that Vilnius is much cooler than the city I come from, where I always had to go to the next town to play billiards. The Singaporean and Indian I played with are members of the newly founded chess club of the Olandu dormitory, whose evening meetings in the study room I have already attended three times. Late at night, chess turned into card games like Uno and Bluff, joined by a good ten people each time. A round of Gartic Phone was particularly funny, although it was strange to be sitting at the same table playing on a mobile phone.
Am letzten Sonntag im März besuchte ich die in einem grünen Holzhaus beherbergte Holocaust-Ausstellung, wo wie in vielen Museen in Vilnius am letzten Sonntag im Monat freier Eintritt ist.
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On the last Sunday in March, I visited the Holocaust Exhibition housed in a green wooden house, where, like many museums in Vilnius, admission is free on the last Sunday of the month.
Georgia hatte mir von der Ausstellung erzählt, die sie im Rahmen eines Unikurses über die Kommunikation traumatischer Erinnerungen besucht hatte. Ihre Dozentin hatte gesagt, dass die Betreiber der Ausstellung traurig über die niedrigen Besuchszahlen seien. Dabei lohnt sich ein Besuch wirklich – das Museum sensibilisiert für den Schrecken und das unfassbare Leid, das die Vernichtung von 90% der rund 200.000 Jüd*innen einschloss, die 1941 in Litauen gelebt hatten. Vilnius war eine Hochburg der jüdischen Kultur in Europa gewesen. Noch das jüdische Ghetto in Vilnius war für kulturelles Leben bekannt: Darin wurden Schulen, Chöre, eine Musikschule, ein Orchester und ein Theater gegründet, eine Bibliothek eröffnet sowie Wettbewerbe und kulturelle Veranstaltungen organisiert. Das Museum zeigt entstandene Liedtexte und Gedichte und erzählt von Einzelschicksalen, etwa von der Opernsängerin Ljuba Lewicka, die festgenommen und erschossen wurde, nachdem sie versucht hatte, ein halbes Pfund Erbsen in das Ghetto zu schmuggeln, und von Yitskhok Rudashevski, einem Jugendlichen, der im Ghetto Tagebuch führte, bevor sein Versteck nach der Räumung des Ghettos entdeckt und auch er ermordet wurde. Seine Worte ertönen neben klassischer Musik in einem der unteren Räume der Ausstellung sowie in einem nachgestellten Versteck auf dem kühlen Dachboden, wo sich unvorstellbar viele versteckt hielten. Auf der aufgeschlagenen Seite des Gästebuchs standen einige Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine – ich fügte eine hinzu.
Heute Morgen begegnete ich in der Küche zwei Mädchen, die sich in einer fremden Sprache unterhielten. Das Omlette, das sie zubereiteten, sah sehr gut aus und ich fragte sie, woher sie kämen.
Aus der Ukraine, sagten sie.
Ich fragte, ob ihre Familien noch dort seien und sie bejahten.
Heute Nachmittag – gerade, als ich schon drauf und dran war, diesen Beitrag zu veröffentlichen – schickte mir jemand die Nachricht, dass Aktivist*innen den Weiher vor der russischen Botschaft rot gefärbt haben und die Olympiasiegerin Rūta Meilutytė hindurch geschwommen sei. Ich bin sofort dorthin gefahren, um es mit eigenen Augen zu sehen. Zur russischen Botschaft führt die neu benannte „Straße der ukrainischen Helden“:
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Georgia had told me about the exhibition she had visited as part of a university course on communicating traumatic memories. Her lecturer had said that the operators of the exhibition were sad about the low number of visitors. Yet it is really worth visiting – the museum raises awareness of the horror and incomprehensible suffering that included the extermination of 90% of the approximately 200,000 Jews who had lived in Lithuania in 1941. Vilnius had been a stronghold of Jewish culture in Europe. Even the Jewish ghetto in Vilnius was known for its cultural life: Schools, choirs, a music school, an orchestra and a theatre were founded in it, a library was opened and competitions and cultural events were organised. The museum displays song lyrics and poems that were created and tells of individual fates, such as of the opera singer Lyuba Lewicka, who was arrested and shot after trying to smuggle half a pound of peas into the ghetto, and of Yitskhok Rudashevski, a youth who kept a diary in the ghetto before his hiding place was discovered after the ghetto was cleared and he too was murdered. His words resound alongside classical music in one of the exhibition’s downstairs rooms, as well as in a re-enacted hiding place in the chilly attic where unimaginably many hid. On the open page of the guest book were some expressions of solidarity with Ukraine – I added one.
This morning I met two girls in the kitchen who were talking in a foreign language. The omlette they were preparing looked very good and I asked them where they were from.
From Ukraine, they said.
I asked if their families were still there and they said yes.
This afternoon, just as I was about to publish this post, someone sent me a message saying that activists had painted the pond in front of the Russian embassy red and that Olympic champion Rūta Meilutytė had swum through it. I immediately went there to see it with my own eyes. The newly named „Street of Ukrainian Heroes“ leads to the Russian Embassy:
„PUTIN, THE HAGUE IS WAITING FOR YOU“, steht in großen, weißen Buchstaben auf dieser Straße. Der Weiher vor der Botschaft, an den die Straße angrenzt, sieht tatsächlich wie ein Blutbad aus.
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„PUTIN, THE HAGUE IS WAITING FOR YOU“ is written in large white letters on this street. The pond in front of the embassy, which the street borders, does indeed look like a bloodbath.
Möwen sind momentan die Einzigen, die auf dem Wasser lautstark protestierten. An Bäumen, Brückengeländer, einer Trauerweide flattern gelb-blaue Bänder. Die Farbe ist umweltfreundlich, aber Enten können Farben viel besser sehen als Menschen und ich frage mich, ob ihnen der neue Anstrich ihres Wohnraums gefällt. Von nahem erscheint das Wasser nicht mehr blutrot, sondern magentafarben und erinnert mich an das Rot, mit dem ich früher Ostereier färbte.
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Seagulls are the only ones protesting loudly on the water at the moment. Yellow-blue ribbons flutter on trees, bridge railings, a weeping willow. The paint is environmentally friendly, but ducks can see colours much better than humans and I wonder if they like the new coat of paint on their living space. Up close, the water no longer appears blood-red, but magenta and reminds me of the red I used to dye Easter eggs with.
Und damit wieder zu dem, was ich heute vor meinem Besuch dort schrieb:
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And so back to what I wrote today before my visit there:
Die ersten Blumen sprießen schon seit der warmen Zeit im März zwischen vertrockneten Grashalmen und Blättern hervor, die noch keine frischen Nachfolger bekommen haben. Viermal besuchte ich den Bernhardiner-Friedhof, über den sich seit letzter Woche Meere aus Blausternen ergießen:
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The first flowers have been sprouting since the warm time in March between withered blades of grass and leaves that had not yet received fresh replacements. Four times I visited the Bernardine cemetery, over which seas of blue starflowers have been pouring since last week:
Wunderschön, nicht? Todtraurig und schön: Ich habe Harry Potter fertiggelesen. Und beim letzten Buch mehrmals fast geweint. Ich war so bewegt, dass ich an dem Abend nichts anderes mehr machen konnte – und am nächsten Morgen in ein Loch gefallen bin, bis ich Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? von John Green begonnen habe, das genauso viel Freude macht zu lesen. Danke an die wunderbare Person, die mir das Buch geschenkt und außerdem die folgende Anmerkung für mich formuliert hat, nachdem sie mir dieses Wissen schon einmal vermittelt hatte <3
Anmerkung: Warum werden Baumstämme mit Kalk weiß gestrichen? Drei Gründe:
- Schutz vor Frostschäden. Bei niedrigen Temperaturen könnte einfallendes Sonnenlicht den Stamm stellenweise stark erwärmen, während er auf der Schattenseite kalt bleibt. Der Temperaturunterschied und die damit verbundene, unterschiedliche Ausdehnung der Rinde kann zu Rissen führen, die den Baum beschädigen. Die weiße Farbe reflektiert das Sonnenlicht, sodass der Stamm auch bei Sonneneinstrahlung an allen Seiten eine weitgehend gleiche Temperatur behält.
- Düngung. Die meisten Pflanzen profitieren von kalkhaltigen Böden. Wird die Kalkfarbe von Regen langsam abgewaschen, gelangt der Kalk ins Erdreich und dient dem Baum als Dünger.
- Prävention gegen Schädlinge. Die Farbe macht es Schädlingen schwer, in die Rinde des Baums einzudringen. Bereits eingedrungene Schädlinge werden unschädlich gemacht.
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Beautiful, isn’t it? Deathly sad and beautiful: I finished reading Harry Potter. And almost cried several times during the last book. I was so moved that I couldn’t do anything else that evening – and fell into a hole the next morning until I started The Anthropocene Reviewed by John Green, which is just as much fun to read. Thank you to the wonderful person who gave me the book and also formulated the following note for me, having given me this knowledge before <3
Note: Why are tree trunks painted white with lime? Three reasons:
- Protection from frost damage. At low temperatures, incident sunlight could warm the trunk considerably in places, while it remains cold on the shady side. The temperature difference and the resulting different expansion of the bark can lead to cracks that damage the tree. The white colour reflects the sunlight so that the trunk maintains a largely equal temperature on all sides even when exposed to sunlight.
- Fertilisation. Most plants benefit from calcareous soils. When the lime colour is slowly washed away by rain, the lime enters the soil and serves as fertiliser for the tree.
- Prevention against pests. The paint makes it difficult for pests to penetrate the bark of the tree. Pests that have already penetrated are rendered harmless.
4 Kommentare
P S
Gefällt mir, sehr interessant… Wie immer.
Norbert
Wieder ein schöner und interessanter Bericht.
Man geht quasi mit spazieren, danke!
tintenstiller
Danke für eure schönen Kommentare! Ich freue mich jedes Mal darüber.
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