Auslandsjahr Vilnius

#32 Ich bin zurück. / I am back.

See below for the English version.

Um 17 Uhr ist es noch ein bisschen hell, den kältesten Wintermonat habe ich übersprungen, woanders verbracht. Ich esse die Tucs, die mir jemand vor dem Flug in den Rucksack geschmuggelt hat und blicke auf den schmelzenden Schnee hinaus. Die Aussicht aus dem Wohnheimzimmer ist vertraut, aber noch letzte Nacht war alles anders. Ich hatte ein gemütliches Zuhause und Schmetterlinge im Bauch, die sich heute Morgen in einen Schwarm Bienen verwandelt haben.

Die Maschine hebt gegen 9:00 Uhr ab, ruckelt durch die Wolkendecke und gleitet sanft durch den strahlenden Himmel darüber. Ich erkenne den rundlichen Mann, der bei meinem letzten Flug nach Vilnius Ende August neben mir saß, wieder hat er die Maske unterm Kinn. Eine Wiederholung, ein Neustart. Die junge Frau neben mir hat Notizen auf Englisch auf dem Schoß, vielleicht lernt sie für ihr Medizinstudium in Vilnius. Ich höre den Lieblingspodcast von jemandem, den ich jetzt schon vermisse und esse Schnitten mit Rotebeeteaufstrich, die er mir um fünf Uhr geschmiert hat. Rotebeete, passend zu Litauen.

Das Flugzeug setzt zur Landung an. Wieder unter den Wolken sehe ich die weiße Landschaft, die dunkle Bäume durchziehen. Der Schnee befindet sich im Tauzustand, aber letzte Woche hat es so viel geschneit, dass es dauern kann, bis er weg ist. Cozy hat mir ein Foto von Eisschollen in der Neris geschickt und mehrere Bilder richtig dicken Schnees. Das habe ich verpasst. Dennoch schlägt mir auf der Flugzeugtreppe schön kalte Luft entgegen, es fallen ein paar Flocken. In Turnschuhen laufe ich über den nassen Asphalt. Wie es aussieht, bin ich den krassen Minusgraden in diesem Land entgangen.

Das Kofferband steht schon still, als ich den Koffer nehme. Zielstrebig laufe ich durch die Eingangshalle zur Bushaltestelle. Die neue Monatskarte ist mit der Trafi-App schnell gebucht, ich weiß schon, welchen Bus ich nehmen muss. Herrlich, sich in einer Großstadt im Ausland auszukennen, sich nicht mehr zurechtfinden zu müssen. Wunderbar, die verkannten, bekannten Gebäude wiederzusehen. In einer anderen Farbe, mit etwas mehr Pflege könnten sie wie Schlösser aussehen. Kurz kommt mir Vilnius vor wie ein einziges Hogwarts, die perfekte Stadt, um Harry Potter zu lesen. Ich sehe mich schon in Cafés sitzen und das wieder tun.

Es ist ungewohnt, wieder nur Fremdsprache um mich herum zu hören, aber es gefällt mir. Das Wort „Lvovo“ fällt mir zweimal auf, an einem Pub und einer Haltestelle, was heißt es? Ich kenne die merkwürdigen Buchstabenfolgen, den portugiesisch anmutenden Klang, aber verstehe so gut wie nichts. Ich erinnere mich, als ich sie sehe, an die Kindergruppen, die in Vilnius‘ Straßen und Parks Warnwesten tragen, mit denen sie wirken wie Quietscheentenbabys, an das Geträngel um die Bustüren, an die Nebelkratzer, nicht hoch genug, um Wolkenkratzer genannt zu werden. Zugleich erscheint Vilnius heller, als ich es zuletzt in Erinnerung hatte. Nur die Treppe, die zum Wohnheim hochführt, habe ich zu gut in Erinnerung, ich balanciere am nassen Schnee und dann an einer älteren Frau mit Hund vorbei. Ich lächle sie an, vergessend, dass sie nicht zurücklächeln wird. Läge in Deutschland so viel Schnee, würde ich mich freuen, trotz Nässe. Ich schieße ein Foto vom Wohnheim, zuletzt habe ich nie wirklich darauf geachtet, wie es aussieht.

Olandu dormitory.

Im Zimmer finde ich mein Bett abbezogen vor, zwei Tagesdecken und eine Schlafdecke darauf. Kein Kissen. Vom letzten Semester bin ich gewohnt, dass andere in meinem Bett geschlafen haben (oder sogar noch liegen), wenn ich nach nächtelanger Abwesenheit wiederkomme, aber so zerstört habe ich es noch nicht vorgefunden. Das andere Bett ist gemacht, ein neuer Koffer steht im Zimmer, Kleidung, die ich noch nie gesehen habe. Meine spanische Zimmergenossin ist gegangen und jemand anderes gekommen. Ich kümmere mich bei der Rezeption um neues Bettzeug, suche in den Schränken nach Sachen, die ich zurückgelassen habe, finde sie irgendwo und fange an, das Bett zu machen. Plötzlich geht die Tür auf und eine junge Frau kommt herein. Wir stellen einander vor. Sie kommt aus Georgien, studiert wie ich Psychologie und bietet mir Hilfe beim Zurückdrehen des Betts an (jemand hat es umgedreht). Sehr sympathisch.

Was ist mit meinem Bett passiert?

Allmählich wird es Zeit fürs Mittagessen, ich gehe zu Rimi, kaufe unter anderem erdige Kartoffeln und den Brotaufstrich, den ich hier am meisten mag. In den nächsten fünf Monaten wird mein täglich Brot wieder nach Kümmel schmecken. In der Wohnheimküche schrubbe ich die Erde von den Kartoffeln, schäle sie über dem Mülleimer und mache mich mit einem Polen bekannt, der Russisch studiert. Er ist neu im Wohnheim, wie die meisten, denen ich auf dem Gang begegne. Ich erzähle ihm, dass meine drei besten Freundinnen aus dem Wohnheim nach dem Herbstsemester zurück in ihre Heimatländer gegangen sind. Ohne sie und die Menschen aus meiner Heimat fühle ich mich heute ein bisschen allein, aber das ist nicht so schlimm. Wie der Pole schon festgestellt hat, gibt es hier viele Möglichkeiten, neue Freunde zu finden.

Später wähle ich Kurse, nehme Cozy eine Sprachnachricht auf und sehe aus dem Fenster. Das Spring Semester beginnt.

Sonnenuntergang, Blick aus dem Fenster.

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At 5pm it’s still a bit light, I’ve skipped the coldest month of winter, spent it elsewhere. I eat the Tucs someone smuggled into my backpack before the flight and look out at the melting snow. The view from my dorm room is familiar, but just last night everything was different. I had a cosy home and butterflies in my stomach, which have turned into a swarm of bees this morning.

The plane takes off around 9:00, jolts through the cloud cover and glides gently through the brilliant sky above. I recognise the rotund man who sat next to me on my last flight to Vilnius at the end of August, again he has the mask under his chin. A repeat, a new start. The young woman next to me has notes in English on her lap, perhaps studying for her medical degree in Vilnius. I listen to someone’s favourite podcast, which I already miss, and eat slices of beetroot spread that he made for me at five o’clock. Beetroot, appropriate for Lithuania.

The plane is coming in for a landing. Back under the clouds, I can see the white-covered landscape, with dark trees interspersed. The snow is in a state of dew, but last week it snowed so much that it may take time to go away. Cozy sent me a photo of ice floes in the Neris and several pictures of really thick snow. I missed that one. Still, nice cold air hits me on the plane stairs, a few flakes fall. I walk across the wet tarmac in trainers. It looks like I have escaped the allegedly extreme sub-zero temperatures in this country.

The conveyor belt is already at a standstill when I pick up my suitcase. I walk purposefully through the entrance hall to the bus stop. The new monthly pass is quickly booked with the Trafi app, I already know which bus I have to take. It’s wonderful to know your way around a big city abroad, to no longer have to find your way. Wonderful to see the unrecognised, familiar buildings again. In a different colour, with a little more care, they could look like castles. For a moment, Vilnius seems like a single Hogwarts, the perfect city to read Harry Potter. I can already see myself sitting in cafés and doing that again.

It’s unusual to hear only foreign language around me again, I like it. I notice the word „Lvovo“ twice, at a pub and a bus stop, what does it mean? I know the letter sequences, the sound, but understand next to nothing. I remember, when I see them, the groups of children wearing high-visibility waistcoats in Vilnius‘ streets and parks, with which they look like squeaking ducklings, the hustle and bustle around the bus doors, the foggy skyscrapers, not high enough to be called skyscrapers. At the same time, Vilnius seems brighter than I last remembered it. Only the stairs leading up to the dormitory I remember too well, I balance on the wet snow and then past an elderly woman with a dog. I smile at her, forgetting that she won’t smile back. If there was that much snow in Germany, I would be happy, despite the wet. I take a photo of the dormitory, I never really paid attention to how it looked.

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Olandu dormitory.

In the room I find my bed covered, two bedspreads and a duvet on it. No pillow. From last semester, I’m used to others sleeping (or even still lying) in my bed when I come back after a night-long absence, but I haven’t found it this destroyed yet. The other bed is made up, a new suitcase is in the room, clothes I’ve never seen before. My Spanish roommate left and someone else came. I see to the reception for new bedding, look in the cupboards for things I left behind, find them somewhere and start making the bed. Suddenly the door opens and a young woman comes in. We introduce each other. She is from Georgia, studies psychology like me and offers to help me turn the bed back (someone has turned it over). Very sympathetic.

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What happened to my bed?

Gradually it’s time for lunch, I go to Rimi, buy, among other things, earthy potatoes and the spread I like most here. For the next five months, my daily bread will taste like caraway seeds again. In the dormitory kitchen, I scrub the earth off the potatoes, peel them over the rubbish bin and get acquainted with a Pole who is studying Russian. He is new in the dormitory, like most of the people I meet in the corridor. I tell him that my three best friends from the dorm have gone back to their home countries after the autumn semester. Without them and the people from my home country, I feel a bit alone today, but that’s not so bad. As Pole has already stated, there are many opportunities to make new friends here.

Later, I choose courses, record Cozy a voicemail and look out the window. The Spring Semester begins.

Sunset, view from the window.

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