Griff ins Klo: Expositionstherapie bei Waschzwang
Die Hand meiner Dozentin steckt bis zum Handgelenk im Toilettenwasser. Ausrufe des Ekels sind zu hören. Sie wischt sich die Hände an Hose und Bluse ab und benetzt ihre Wangen und Locken.
Die Dozentin ist eine große, charismatische Frau Mitte Vierzig, die Bock auf Expositionstherapie zu haben scheint. Sie hat jahrzehntelange Erfahrung in der Konfrontation mit Toiletten. Am Anfang habe auch sie sich daran gewöhnen müssen, aber nach so vielen Jahren verspüre sie dabei weder Angst noch Ekel. Dies sei wichtig, um der Patientin oder dem Patienten ein Modell zu sein. Sie vertraue darauf, dass die Toiletten des Ausbildungsinstituts regelmäßig geputzt werden. An einer Bahnhofstoilette würde sie diese Übung nicht machen.
Wenige Minuten zuvor
„Was ist Sinn und Zweck dieser Übung?“, fragt die Dozentin, die im Rollenspiel die Therapeutin darstellt.
„Wir machen das, um den Teufelskreis aus Angst vor Kontamination und Waschen zu durchbrechen“, sagt die Seminarteilnehmerin, die die Patientin spielt. „Die Neutralisation durch Waschen verstärkt die Bedeutung und negative Bewertung des Zwangsgedankens Ich bin schmutzig. Nachdem ich mit der Toilette in Berührung gekommen bin, werde ich mir also nicht die Hände waschen. Außerdem haben wir im Gedankenexperiment festgestellt, dass die Angst mit der Zeit abnimmt und immer weniger wird, je öfter ich die Übung wiederhole.“
Ich habe die Angstkurven aufgezeichnet: Die rote Linie zeigt den Verlauf der Angst, die eine beispielhafte Patientin mit Waschzwang erwarten würde, wenn sie sich nicht waschen würde. Sie würde erwarten, dass die Angst sehr stark wird und nicht abnimmt (oder dass sie sich ins Unendliche steigert). Die grüne Linie zeigt den Verlauf, den die Angst tatsächlich nimmt – mit der Zeit wird sie abnehmen (Fachwort: Habituation). Die blaue Linie stellt dar, wie die Angst sehr schnell abnimmt. Das ist dann der Fall, wenn sich die Patientin wäscht. Dies nennt man in der Fachsprache „Neutralisation“ und erhält die Zwangsstörung aufrecht.
„Das haben Sie sehr gut zusammengefasst“, sagt die Dozentin und stellt die wichtige Frage: „Möchten Sie die Übung jetzt durchführen?“
Wenige Minuten später
Ich betrete eine Kabine des Männerklos, wie schon einige vor mir. Die Bremsspuren springen mir direkt ins Auge. Scheiße. Im Rücken spüre ich die Blicke der anderen. Auch die Dozentin schaut zu. Ich kremple die Ärmel hoch und tue es meinen Vorgänger:innen gleich. Mit beiden Händen fahre ich über die Klospülung, den Klobürstengriff, den Klodeckel. Die Klobrille. Den nächsten Schritt haben sich nur wenige getraut. Es ist gut, auf die eigenen Grenzen zu achten. Ich mache es so: Augen zu und rein. Eigentlich sollte ich mental bei der Anspannung bleiben, bei den Gedanken über Körperflüssigkeiten und Krankheitserreger. Das Wasser ist kühl.
„Toll“, höre ich von draußen. Klatschen ertönt.
Nach dem Griff ins Klo putze ich die Hände an Jeans und Pulli ab, kontaminiere mich, fasse mir ins Gesicht und in die Haare. Zumindest bis zum Mittagessen sollten die Hände nicht gewaschen werden, lautet die Empfehlung. Was haben wir aus der Pandemie gelernt? Wurde ich Opfer einer fatalen Gruppendynamik? Sind wir Freaks? Das denke ich in dem Moment nicht, sondern wurde ich später gefragt.
„Wo liegt deine Anspannung?“, fragt die Dozentin, als ich aus der Kabine komme.
„Fünfzig Prozent.“ Auf Adrenalin folgt Euphorie.
Erst hinterher wird mir leicht übel. Ich spüre die getrocknete Berührung am Kinn.
„Was ist, wenn wir nächste Woche alle krank werden?“, fragt jemand.
Unsicherheit gebe es immer. Expo sei anstrengend, aber auch geil. Das fühle auch ich, obwohl ich die Stelle am Kinn und den Geruch nach Exkrementen in der Nase vor der nächsten Dusche nicht ganz loswerde. Wird auch mir ein Griff ins Klo irgendwann nichts mehr ausmachen?
Die Wirksamkeit von Expositionstherapien ist wissenschaftlich gut belegt. Zum Händewaschen in Toilettenwasser sind mir bisher allerdings keine Studien bekannt.
Ein Kommentar
Norbert
Hut ab, das ist eine Grenzsituation für viele. Die Überwindung alleine und dann noch nicht direkt ein gründliches Waschen und desinfizieren, was „einem“ eigentlich sofort in den Sinn kommen würde.
Sehr interessant, danke und schöne Grüße, N