Literatur

Weihnachtszauber oder Weihnachtsblues?

Heiligabend Ende des letzten Jahrtausends. Ich kann noch nicht laufen und bekomme einen Puppenwagen geschenkt. Oma schiebt ihn ins Wohnzimmer und läutet eine Glocke. Da hat sie noch pumucklrote Haare und kann sich ohne Probleme bücken.
„Das Christkind kommt“, sagt sie. „Guck mal, was da drin ist.“
Im Hintergrund dreht sich Omas und Opas Krippe, angetrieben von Kerzenwärme. Ich lächle und wirke im nächsten Moment überfordert. Den Daumen im Mund, die andere Hand typischerweise am Ohrläppchen, stütze ich mich mit den Ellbogen auf das Fußteil des Sessels. Opa fordert mich auf, zum Puppenwagen zu gehen, und zieht an meinem Arm.
„Lass sie“, sagt meine Mutter. „Sie braucht halt ein bisschen.“
Oma nimmt eine Puppe aus dem Wagen. Ich werde sie Mam nennen.
„Schau mal, sie trägt sogar eine Unterhose“, sagt meine Tante. Das wird Mam nicht mehr lange. Jedenfalls hatte sie in meiner Erinnerung nie eine Unterhose an.
Ich beginne, den Wagen zu schieben. Oma hält ihn vorne fest, überzeugt, dass er sonst kippt. Meine Tante findet, dass ich das lernen müsse. Es wird diskutiert, ob Oma den Wagen loslassen sollte. Nachdem wir eine Runde gedreht haben, lässt sie sich überreden und ich falle auf die Knie.
Schnitt.
Krabbelnd bringe ich den Anwesenden ihre Geschenke. Am Ende sitze ich auf dem Schoß meines Vaters, der sich eher unbeteiligt auf dem Sofa aufhält. Er vermutet, dass ich Hunger habe. Mir wird ein Fläschchen Milch gebracht. Ich ziehe zweimal daran und biete es dann meinem Vater an.
Bei den Videoaufnahmen wird mir warm ums Herz. Seitdem hat sich viel in der Familie verändert: Zwei Scheidungen, drei Hochzeiten, zwei Todesfälle, drei Geburten. Ende der 90er war ich das einzige Kind. Richtig schön wurde Weihnachten erst, als nach und nach meine Cousine, mein Cousin und meine Schwester hinzugekommen sind. Bis letztes Jahr hat immer jemand daran geglaubt, dass das Christkind die Geschenke bringt. Mit Taschenlampe, Glocke und Ablenkungsmanövern haben wir es lebendig gehalten.

Am diesjährigen 24. Dezember besuche ich mittags Ursel. Jedes Jahr klagt sie über den Weihnachtsblues, mit dem schon ihr Vater Weihnachten über im Bett gelegen habe. Sie trägt keine Brille mehr, so weit ist die Netzhautablösung inzwischen fortgeschritten.
„Il me reste d’être l’ombre parmi les ombres”, zitiert sie ein Gedicht von Robert Desnos. „Dans ta vie ensoleillée.“ Es hält sie am Erinnern.
Ich sage ihr, dass sie kein Schatten in meinem sonnigen Leben sei, sondern Licht, und packe den Bluetooth-Lautsprecher aus. Vor ein paar Tagen habe ich das Lied namens Weihnachtsblues für sie geschrieben und aufgenommen.
„Was ist der Weihnachtsblues, wo kommt er her?“, beginne ich zu Gitarren-Dur-Akkorden zu singen. „Warum macht er dir das Leben so schwer? Wie klingt der Weihnachtsblues, du weißt es, Ursel-Bär. Warum fühlst du dich melancholisch, traurig, leer?“
Ich nehme meine Songs nicht ernst und mag es, dabei zur Abwechslung zu reimen. Ursel lächelt und sagt: „Toll.“
„Zeig mir den Weihnachtsblues, klimper am Klavier. Mach eine Kerze und tanze mit mir. Dreh dich im Kreis, leuchte wie ein Rentier. Sing aus vollem Hals Halleluja, Mamma Mia.“
Dann kommt der Refrain. Viermal „Halleluja, Mamma Mia“.
„Ich weiß nicht, wie Blues klingt, aber das wird’s vielleicht sein. Ich lad meine Großtante zum Musizieren ein. Und dann tanzen wir zusammen ins Weihnachten hinein. Clap your hands and sing and dance – Ursel, stimm mit ein.”
Ursel stimmt ein: „Halleluja, Mamma Mia.“ Viermal. Bei der zweiten Runde singen wir: „Halleluja, Ursel Mia.“
Sie lacht und das ist die größte Belohnung.

Wenige Stunden später sitze ich im Kindergottesdienst. Nicht weil ich an Gott, sondern an Weihnachten und Kinder glaube. Eine Freundin meiner Schwester singt im Krippenspiel ein Solo. Nur übertroffen vom klimpernden, sich drehenden Stern an den Orgelpfeifen, als die Gemeinde Oh du Fröhliche als letztes Lied singt. Da unterdrücke ich einen Anflug von Tränen.

Schon lange gibt es bei uns an Heiligabend nicht mehr Kartoffelsalat, sondern Raclette. Leider ist diesmal ein Großteil des Käses verschimmelt, aber niemand verliert ein schlechtes Wort darüber. Allen elf Gästen wurde mit beschrifteten Lebkuchen ein Platz zugewiesen. Manche sind schwer lesbar.
„Ich habe sie gebacken“, sagt meine Tante. „Aber nicht verziert.“
Ich sitze zwischen meiner eigenen und einer anderen Großmutter.
„Die Psychologin in die Problem-Ecke“, sagt mein Onkel.
Auch über seine Sprüche verliert niemand ein schlechtes Wort.
„Zum Nachtisch gibt es Vanille- und Schokoladeneis mit heißen Himbeeren“, sagt meine Tante mit einem verheißungsvollen Blick in meine Richtung.
Ich bedanke mich, dass sie an mich gedacht hat. Oft gibt es nur Vanilleeis. Schokoladeneis ist ein echter Luxus.
„Wann hast du das Schokoladeneis denn gekauft?“, fragt mein Cousin.
„Hast du es etwa gegessen?“, fragt meine Tante.
„Tja, irgendwann wirst du an Weihnachten alleine dasitzen“, sagt mein Onkel zu meiner Mutter. „Dann sind die Kinder weg und wir machen eine Dampfer-Fahrt.“
Keine politischen Diskussionen an Weihnachten, hatte ich mir vorgenommen. Meine Mutter und ich werfen uns einen Blick zu.
„Dann kommst du mit dem Zug zu uns“, sage ich.
Mein Freund ist bei seiner Familie, drei von vier Kindern sind erwachsen und meine Stimmung liegt bei sieben von zehn, ist weniger weihnachtlich als in anderen Jahren, aber höher als vor drei Jahren, meinem traurigsten Weihnachten bisher, als ich Pfeiffersches Drüsenfieber hatte und wir in kleiner Runde feiern mussten.
Doch dann kommt die Bescherung. Wir gehen mit meiner Schwester nicht mehr rauf, während unten jemand mit der Taschenlampe an die gegenüberliegende Hauswand leuchtet. Aber Oma hat sich dieses Jahr etwas Besonderes ausgedacht. Als sie ein Rätsel ankündigt, sind meine Erwartungen nicht sonderlich hoch, werden jedoch schnell übertroffen.
Omas Spiel geht so: Jemand zieht einen Zettel und liest ihn vor. Darauf stehen jeweils Namensherkunft, Namensbedeutung und Namenstag. Der Name wird erraten und der- oder diejenige, um dessen oder deren Namen es sich handelt, sucht am Weihnachtsbaum nach einem Baumschmuck, welcher der Namensbedeutung entspricht. Den Baumschmuck erhält er oder sie als erstes Geschenk. Dieser enthält eine Nummer als Hinweis auf ein größeres Geschenk unter dem Baum.
Ich wusste nicht, dass mein Name auch „sanfte Katze“ bedeutet. Das für mich bestimmte, flauschige Kätzchen an einer Kugel, die sich öffnen lässt, ist so süß. Mir wird wieder warm ums Herz und auch den anderen scheint das Spiel zu gefallen.
Gerührt schaue ich zu Oma hin. Ihr Geschenk und ihre Liebe sind für mich viel schöner, als ein Geschenk von einem unbekannten Christkind oder Weihnachtsmann es sein könnte. Früher hat sie mit, heute ohne Geschichten für Weihnachtszauber gesorgt. Und das in ihrem hohen Alter. Ich will sie mir zum Vorbild nehmen.

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