Bin ich zu schüchtern, um Therapeut zu werden?
Als ich in den Kindergarten kam, stand ich in den ersten Wochen am Rand und schaute den anderen Kindern beim Spielen zu. Eine Erzieherin machte sich Sorgen und sprach das beim Abholen an. Meine Eltern, Großeltern, Großtanten und wer sich sonst noch liebevoll um mich kümmerte, waren einiges von mir gewohnt: Vom Plärren im Flugzeug bis zum Zirkus, wo ich zwei Stunden lang den Kopf wegdrehte. Ich hatte Angst vor Orten, an denen menschengroße Figuren standen, vor Schaufensterpuppen, Masken, Perücken, Marionetten und dem Hasen im Osterexpress. Gegenüber Fremden hielt ich mich an vertrauten Beinen fest. Wie oft hörte ich, ich sei schüchtern? Und später die Antwort, dass ich das schon immer war.
Nach Jahren der mangelnden Geburtstagseinladungen und ausreichenden mündlichen Noten schickte meine Mutter mich zu einer Therapeutin, die mir nach unserem Gespräch eine Therapie anbot. Ich könne, müsse aber nicht. Weil ich mich in der achten Klasse niemandem anvertrauen wollte, lehnte ich ab.
Noch mit 18 traute ich mich nicht, bestimmte Anrufe zu tätigen. Einmal sagte meine Mutter: „Und du willst Therapeut werden. Du hast Angst vor Menschen!“
Mit 16 hatte ich diesen Wunsch gefasst, nachdem ich Und Nietzsche weinte von Irvin D. Yalom gelesen hatte. Das Zitat Nietzsches, das am Anfang steht, hatte mich überzeugt: „Mancher kann seine eignen Ketten nicht lösen und doch ist er dem Freunde ein Erlöser.“
Ich sah meine Ketten, die Schüchternheit, als festgesetzt an. Wer mir helfen wollte, mich zu ändern, dem sagte ich: „Das ist mein Charakter.“ Ich war nun mal ruhig. Heute weiß ich, dass es sich dabei um zwei verschiedene Paar Schuhe handelt. Das eine ist Ängstlichkeit, an der sich wie an allen Ängsten arbeiten lässt, das andere Introversion, eine angeborene Persönlichkeitseigenschaft. Dass ich auch in vertrauten Kreisen nicht viel rede, muss nicht heißen, dass ich mich blockiert fühlen muss, wenn ich etwas sagen möchte. Das eine bin ich und das ist okay. Das andere, worunter ich leide, kann ich ändern.
Vor wenigen Wochen hatte ich im Rahmen meiner Therapeutenausbildung meine erste Selbsterfahrung. In einer kleinen Gruppe von sieben Auszubildenden sollten wir, angeleitet von einer erfahrenen Therapeutin, unsere Themen im Kontakt ergründen, schließlich handelt es sich bei dem von uns angestrebten um einen Kontaktberuf. Ich war froh, als die Selbsterfahrungsleiterin gleich zu Beginn sagte: „Es kann sein, dass ihr nach einiger Zeit feststellt, dass Therapieren nicht das Richtige für euch ist. Das passiert dann aber nicht hier, in der Selbsterfahrung. Es gibt viele gute Therapeut*innen, die mit einer Menge eigener Baustellen begannen.“
Bei den Übungen und Rollenspielen stieß ich schnell auf die Gedanken, mich komisch zu verhalten oder etwas Dummes zu sagen, die mir im Kontakt mit anderen durch den Kopf gehen und mich hemmen. Am Ende des ersten Tages nannte jede*r die eigenen Themen. Als ich an der Reihe war, legte ich das Nötigste dar und stockte.
„Jetzt ist so ein Moment, wo du nicht weißt, was du sagen sollst“, sagte die Selbsterfahrungsleiterin. Ich spürte, wie ich rot wurde. Sie steckte den Finger noch tiefer in die Wunde: „Hast du den Eindruck, genug gesagt zu haben, dass die anderen dein Problem verstehen?“
Ich fühlte mich ertappt, zugleich gehemmt. Es dauerte einen Moment, bis ich sagte: „Diese Gruppe ist eine gute Expo für mich.“
Um Exposition, Angstkonfrontation, geht es für mich auch bei meiner Praktischen Tätigkeit 1 in der Tagesklinik, als Co-Therapeut in der Gruppentherapie und im Team, wenn ich meine Patient*innen einschätzen soll. Eine Pflegerin hatte mich neulich piepsig und stocksteif genannt. Das tat erst weh und stachelte dann an.
Die Selbsterfahrungsleiterin schlug mir vor, im Sinne einer Expo mehr als alle anderen die Beiträge der anderen zu kommentieren. Das sei das Gegenteil von dem, was mit mutistischen Kindern gemacht würde. Wenn man diesen sagte, sie sollten sprechen, würde genau das nicht passieren. Aber ich bin kein Kind mehr. Ich brauche Druck. An eine Flipchart schrieb sie: 1. Erkennen, 2. Annehmen, 3. Analysieren, 4. Disidentifizieren. „Probleme haben es an sich, nicht einfach zu verschwinden. Sie wollen bestehen bleiben“, sagte sie. „Das sind die Schritte, sie zu bewältigen.“
Ich ging die Punkte für mich durch: Ich hatte meine Hemmungen bereits als Problem erkannt und angenommen. Am Ende sollte ich es schaffen, sie nicht mehr als Teil meiner Persönlichkeit zu sehen.
Am nächsten Tag analysierten wir unsere Themen tiefergehend. Dazu sollte eine Übung dienen, bei der wir uns unsere frühen Kontakterfahrungen an einer Wäscheleine vorstellten. Auf der einen Seite sah ich mich abseitsstehen, die Schuhe, bei der eine Klassenkameradin gefragt hatte, ob meine Mutter oder Oma sie ausgesucht hätte, und die Jacke, in der eine andere mich „Eskimo“ genannt hatte. Auf der anderen Seite sah ich mich grinsen, als Anführer einer Bande, wie ich an die Hand genommen wurde und wie ich selbst kleinere, traurige oder ängstliche Kinder an die Hand nahm und mich dadurch stark fühlte, wenn ich vorher selbst traurig oder ängstlich gewesen war. Darin erkannte ich die Motivation, Gutes zu tun, als Ressource.
Am Ende der Selbsterfahrung erhielt jede*r von uns eine Karteikarte. Diese sollten wir zukünftig unserem Gegenüber geben, der/die dann darauf achten sollte, ob wir taten, was auf der Karte stand. Auf meiner hieß es: „Ich neige dazu, zu verstummen, wenn ich viel mitzuteilen habe.“
In der nächsten Gruppentherapiesitzung auf der Arbeit achtete ich selbst besonders darauf. Meine Kollegin und ich ergänzten uns abwechselnd mit Fragen und Anregungen. Es machte Freude. Ich bekam einen Vorgeschmack davon, was es bedeutet, der Schüchternheit die Stirn zu bieten: Freiheit.
Ein Kommentar
Norbert
Man, ein Text, der viel von Dir freigibt, den Mut zu haben, das zu äußern und den Willen,
daran zu arbeiten, das verdient Respekt. Viele trauen sich nicht einzugestehen, dass auch
sie Probleme, welcher Art auch immer, haben versuchen es zu verbergen oder überspielen
sie. Mach weiter so, ich bin sicher, in Dir steckt noch viel mehr, als Du selber es ahnst!