Fünfundzwanzig und Therapeut – in Ausbildung
Endlich bin ich PiA, Psychotherapeut in Ausbildung. Es regnet seit drei Tagen und ich mache den Spaziergang im Tageslicht, nach dem ich mich seit Silvester sehne, lieber nicht. Im Dezember habe ich die Praktische Tätigkeit 1 in einer Tagesklinik begonnen. Die Praktische Tätigkeit 1 umfasst 1.200 Stunden in einer psychiatrischen Einrichtung und soll genau ein Jahr dauern. Ich bin zu zwei Dritteln als PiA, zu einem Drittel als Psychologe angestellt, arbeite 38,5 Stunden die Woche und verdiene gut 2000 Euro brutto im Monat. Die Ausbildungskosten liegen bei 330 Euro monatlich.
Ich stehe um 6:15 Uhr auf, gehe um 7 Uhr aus dem Haus, fahre 10 Minuten Fahrrad, nehme um 7:25 Uhr den Zug, der oft Verspätung hat, fahre 20 Minuten und noch mal 10 Minuten mit dem Rad und komme gegen 8 Uhr in der Tagesklinik an, in den letzten Tagen tropfend. Regenhose, Regencape und Skihandschuhe sind wie ein Zelt, das ich auf- und abbaue. Am Fahrradständer begegnen mir des Öfteren Ratten. Einmal hockte jemand genau in der Lücke, wo ich das Rad hinstellen wollte, zeigte mir den Mittelfinger und schnauzte mich an abzuhauen. Da erst fiel mir seine Notdurft auf. Es ist fast immer dunkel, wenn ich zu den Fahrradständern komme.
Das sind die Rahmenbedingungen, aber im Rahmen hängt ein schönes Bild. Es geht mir wie Walt Whitman, der sagt: „Afoot and light-hearted I take to the open road, / Healthy, free, the world before me”. Ich sitze im Zug, höre Musik und freue mich über meinen spannenden Job.
Mit der Tagesklinik habe ich einen Glücksgriff gemacht: Das Team ist freundlich, eine Pflegerin leiht mir Bücher Yaloms aus, eines über Gruppentherapie. Der Fokus der Tagesklinik liegt auf genau dieser Form der Therapie. Die zehn Patient*innen „meiner“ Gruppe kommen um acht und dürfen um 16 Uhr wieder gehen, sie bleiben acht oder zehn Wochen. Ich stelle mich ihnen als Psychologe vor. Die erste Frage, die die Patient*innen an mich stellen, ist, wie alt ich bin. Und was soll ich sagen – dass ich noch in Ausbildung bin? Besser nicht.
Eine andere PiA, die seit Mai da ist, zeigt mir alles, gibt mir einen Ordner zur Einarbeitung und Textbausteine für Arztbriefe. Wir gehen zu dritt in die Gruppensitzungen, ich darf erstmal zusehen und lernen. Ich habe ein eigenes Büro, lese Biografien, dokumentiere, werte Fragebogen aus. Das Büro der Oberärztin steht häufig offen, sie lässt mich bei Vorstellungsgesprächen hospitieren, bevor ich unter ihrer Aufsicht selbst eins führen darf. Zum neuen Jahr bekomme ich meinen ersten Patienten, für den ich Ansprechpartner bin.
Mit dem neuen Jahr beginnt auch die theoretische Ausbildung. In der Einführungsveranstaltung lerne ich die anderen Ausbildungsteilnehmer*innen kennen, stelle mich wie gewünscht anhand eines Gegenstands vor, der mir besonders viel bedeutet und symbolisch für mich steht: Postkarten mit Zitaten bekannter und weniger bekannter Schriftsteller*innen, die eine Freundin mir geschenkt hat. Sie hat die gleichen, ich bekomme sie zurück. Ich schreibe, reise und lese gerne. Die anderen erscheinen super sympathisch und extravertiert. Werde ich als eher introvertierte Person meinen Platz in der Gruppe finden? Es gibt allerlei Snacks und zum Abschluss Minipizzen und wir stoßen mit Sekt an, immerhin die Hälfte mit alkoholfreiem. Es folgt ein wertvoller Austausch über herausfordernde und amüsante Situationen in den Kliniken.
Am ersten Januarwochenende findet der erste Intensivkurs statt, Samstag und Sonntag von neun bis 17 bzw. 16 Uhr, Gesprächsführung. Wieder gibt es süße und salzige Snacks und eine Menge lehrreicher Rollenspiele in Kleingruppen. Ich höre besser zu und melde mich öfter denn je, mit dem Tempo, das die Dozentin an den Tag legt, und in der wertschätzenden Atmosphäre fällt das nicht schwer. Am ersten Tag lernen wir, zusammenzufassen, Raum zu geben, Stille auszuhalten. Das fällt mir leicht, habe ich am Kinder- und Jugendtelefon oft geübt. Am zweiten Tag sollen wir direktiv vorgehen, hieraus ziehe ich viel. Ich genieße es, ausgebildet zu werden, fühle mich um 16 Uhr kaum platt. Erst als ich heimkomme, falle ich aufs Sofa und komme nur schwer wieder hoch.
Das freie Wochenende danach verbringe ich im Hinblick auf die nächsten Abend- und Samstagsseminare achtsam und fülle es mit schönen Dingen und Entspannung. Ich schreibe endlich diesen Blogbeitrag über meine ersten Wochen, wenigstens kurz.
Ein Kommentar
Norbert
Ja prima, das klingt positiv!