„Denken ist schwer, darum urteilen die meisten“ – C. G. Jung
Es passierte mit dir im Autokino, als wir uns den „Joker“ ansahen. Vorher im Bus, als wir über Schule sprachen. Ich dachte. Wo werden wir mehr bewertet als in der Schule? Die Antwort ist vermutlich: Nirgends weniger. Warum willst du wissen, welche Noten ich habe? Was meine Eltern beruflich machen? Woher ich komme? Und warum will ich dir all das nicht verraten?
Ich schätze (und selbst das womöglich voreilig?), du willst mich mit diesen Informationen besser einschätzen können, um mehr Kontrolle zu haben, weniger überrascht zu werden, dafür nicht ernsthaft nachdenken zu müssen und weil du danach strebst, dich im Vergleich mit anderen selbst zu erkennen. Aber sind Urteile, die auf Äußerlichkeiten beruhen, nicht oberflächlich, verzerrt, und ist das nicht fatal?
Wie viel von dem, was wir sind, geht auf verzerrte Urteile zurück? Auf die Schublade, in die wir oft vorschnell gesteckt werden? Den Einfluss, den vorweggenommene Urteile und damit verbundene Erwartungen haben können, beobachteten Rosenthal und Jacobson 1965: In ihrer Studie zeigten Schüler, die Lehrern als vielversprechend vorgestellt worden waren, später signifikant höhere IQ-Steigerungen als Schüler, bei denen das nicht der Fall gewesen war. Wie groß ist oder war dieser nach Pygmalion benannte Effekt unserer Lehrer auf uns? Und wie groß ist unser Pygmalion-Effekt auf andere?
Wie groß ist der Einfluss deiner frühen Urteile über mich auf mich und der Einfluss meiner schnellen Urteile über dich auf dich? Wären wir vorsichtiger, wenn wir es wüssten? Könnten wir das überhaupt?
Wir formen unser Urteil über andere in den ersten 100 Millisekunden. Wenn jemand gut aussieht, wirft das ein gutes Licht auf andere Eigenschaften; wir halten ihn dann wahrscheinlicher auch für etwa klug oder unschuldig (Halo-Effekt). Jemanden, der „intelligent, fleißig, impulsiv, kritisch, störrisch, neidisch“ ist, halten wir für kompetent, jemanden, der „neidisch, störrisch, kritisch, impulsiv, fleißig, intelligent“ ist, für fehlangepasst, allein aufgrund der Wortreihenfolge (Primäreffekt). Von einer Reihe an Urteilsheuristiken – mentalen Abkürzungen unter Unsicherheitsbedingungen, die eine schnelle und sparsame Urteilsbildung ermöglichen, häufig zu annähernd korrekten Urteilen, jedoch auch zu Fehleinschätzungen führen können – ganz zu schweigen.
Es scheint, als würden wir unumstößlichen Automatismen unterliegen, die völlige Vorurteilsfreiheit nicht erlauben. Vielleicht, aber in der Positiven Psychologie ist Urteilsvermögen – Dinge zu durchdenken und von allen Seiten zu betrachten – auch eine Charakterstärke. Wir können nachdenken und dadurch bessere Entscheidungen treffen, genauere Urteile fällen. Wir müssen neurologisch Erkrankte nicht verurteilen, wenn sie in unpassenden Momenten lachen. Wir müssen nicht lachen, wenn jemand im Zug vor sich hinredet oder den Türknopf nicht findet.
Wir können uns nach Gründen fragen und die Kritik des Jokers am System zu Herzen nehmen:
„Humor ist subjektiv, Murray. Sagt man das nicht so? Ihr alle, das System, das so viel weiß, entscheidet, was richtig oder falsch ist. Auf die gleiche Art und Weise, wie du für dich entscheidest, was lustig ist oder nicht. Warum sind alle so verärgert wegen dieser Typen? Wenn ich auf dem Bürgersteig sterben würde, würde es keinen interessieren. Jeden Tag komme ich an euch vorbei und ihr bemerkt mich nicht!“
Denken wir mehr.