Groß-Britannien

Schottland: Die Highlands

In Schweden hielten am 3. September 1967 um 4:50 Uhr die Fahrzeuge an. Die Personen am Steuer wechselten von der linken auf die rechte Spur und warteten die nächsten zehn Minuten auf eine Ansage aus dem Radio. Das ganze Land hielt den Atem an. Die Ansage kam und die Wagen setzten sich zitternd in Bewegung.
Wir steigen am 11. Oktober 2023 in Schottland in einen Mietwagen, ich links, er rechts. Ich habe die Navigation in der Hand, er das Lenkrad.
An jenem Tag im September ’67 wurden in Schweden rund 150 leichtere Unfälle erfasst. Obwohl es zuerst zu etwas mehr Auffahrunfällen kam, nahmen die Unfälle mit Fußgänger*innen und Radfahrer*innen nach der Umstellung von Links- auf Rechtsverkehr ab.
Wir wollen diese Veränderungsbereitschaft ebenfalls an den Tag legen. Der erste Kreisverkehr kommt direkt nach der Ausfahrt am Flughafen, der nächste – zweispurige – nur etwa 50 Meter weiter.
„Jetzt raus. Nein. Das war falsch. Wenden.“
Irgendwann hat er den Dreh in den zweispurigen Kreisverkehren und ich mit der Navigation heraus. Der Bordcomputer piept, wenn wir zu weit nach links kommen.
Die Fahrt von Edinburgh nach Inverness ist von Anspannung und Umdenken in einer spiegelverkehrten Welt geprägt. Nördlich von Edinburgh beginnen die Highlands, Hügel wie schlafende Hunde. Im Radio wird von den überschwemmten Feldern berichtet, an denen wir vorbeifahren.
Hochkonzentriert bringt er uns rund 180 Kilometer weiter. Ich kann ihm nur Wasser, aber nicht das Wasser reichen.

Wir kommen im Rossal House unter, das im späten 19. Jahrhundert für den wohlhabenden englischen Gentleman Thomas Edward Buckley, seine Frau Mary und vier Kinder gebaut wurde. Es liegt immer noch ruhig als eines der vornehmen Häuser am Fluss und der Garten ist groß, obwohl der Parkplatz viel Fläche einnimmt. In Gedanken folge ich den spielenden Kindern durch den Garten, am Fluss entlang und auf die Insel, die wegen des Hochwassers zurzeit abgesperrt ist.
Wie in Edinburgh stehen ein Teekocher, Tassen, schwarzer Tee, Kaffee, Milch, Zucker und Biskuits bereit. Der Gast vor uns hat vergessen, sich von Netflix abzumelden. Wir legen ein Gastprofil an. Vier Abende haben wir, um die acht Folgen der vierten Staffel Sex Education zu schauen. Ich freue mich riesig.
Fußläufig sind es 20 Minuten in die Innenstadt von Inverness, immer dem Fluss Ness entlang, der von Loch Ness ins Meer fließt. Ich will heute noch ans Meer und nach Delfinen Ausschau halten, von denen ich im Reiseführer gelesen habe. Es gibt Gerüchte, dass es sich bei dem Ungeheuer von Loch Ness um einen Walpenis handeln könnte, aber könnten nicht auch Delfinflossen gesichtet und fehlinterpretiert worden sein?
In einer Bar esse ich den dritten Tag in Folge einen Wrap. Als die Kellnerin fragt, was wir noch vorhaben, sage ich ihr, dass wir Delfine sehen wollen. Sie schaut mich aus großen Augen an. „Ich habe hier noch nie Delfine gesehen“, sagt sie und verabschiedet sich mit sichtlich aufgehellter Laune von uns. Vielleicht hat sie hier in dieser Kleinstadt, der sie selbst so wenig abgewinnen kann, auch noch nie Tourist*innen gesehen, geschweige denn welche, die auf Delfine und nicht auf Nessie aus sind.
Dreißig Minuten laufen wir zum Meer. Auf dem Weg entdecken wir eine große, schöne Second-Hand-Buchhandlung, die nach den Delfinen wahrscheinlich das Highlight von Inverness ist, hierarchisch noch vor der Burg. Hier sammeln sich die Besucher*innen der Stadt.
Auf der Straße spricht uns ein Mann mit einem Nummernschild im Arm an und fragt, ob wir ein Auto hätten. Nein. Okay, dann suche er weiter nach dem Wagen.
Wir kommen an einer Reihe ungepflegter und doch so gleicher Vorgärten vorbei. Nur ein Vorgarten voll Hundespielzeug sticht heraus.
Endlich am Aussichtspunkt, setzen wir uns. Starren auf das Wasser, hinter die Autobahnbrücke. Kneifen die Augen zusammen. Auch wenn Oktober und die Delfinsaison vorbei ist.

On the road again, down the Highlands entdecken wir den Radiosender “Radio Gael”. Wir verstehen zwar kein Wort Gälisch, aber die Musik passt genau zu der Landschaft und dem bunten Laub. Am Strand von Loch Ness steigen wir kurz aus. Gischt schäumt ans Ufer, der See aufbrausend wie das Meer.
Wir fahren die Straße am Wasser entlang, das sich scheinbar endlos in die Länge zieht, und kommen an der Burgruine Urquhart Castle vorbei. Überall wird für Loch Ness geworben, weiter weg werden am Straßenrand sogar Loch-Ness-Kürbisse verkauft. Illusion macht berühmt.
Auf einer Weide, auf der Schafe und Rinder grasen, entdecken wir einen kleinen, steinummauerten Friedhof. Die jüngsten Gräber stammen aus den 1960ern. Einige Leute, die hier liegen, wurden bemerkenswert alt für das 18./19. Jahrhundert.

Ich sammle Namen mit „Glen“. Das bedeutet „Tal“ und einige Orte beginnen so. Glen Affric soll laut unserem Reiseführer „eines der romantischsten Highland-Täler“ sein. Dort wandern wir an den Dog Falls, trockenem Farn und Kiefern zu einem Aussichtspunkt, von wo aus wir Loch Beinn a‘ Mheadhoin sehen können.

Schafe laufen über die Fahrbahn. Eine Wanderin mit bunter Mütze warnt uns, offenbar besorgter um die Tiere als um sich selbst, aber wir haben die Schafe schon gesehen. Manche rennen vor uns her, andere treten gelassen zur Seite.
Noch öfter müssen wir allerdings bremsen und hupen, um keinen Fasan zu überfahren. Überall im Land liegen die Vögel in regelmäßigen Abständen am Straßenrand. Hin und wieder sehen wir auch totes Wild. Der Reinigungsdienst scheint nicht hinterherzukommen.
Die Straße südlich von Loch Ness, die durch raues Hochgebirge führt, ist sterbensschön und fasanenreich.

Wie oft Regen und Sonne abwechseln, als wir versuchen, Ben Nevis, den höchsten Berg Großbritanniens, zu besteigen, kann ich nicht sagen. Dass Schottland ein Regenbogenland ist, haben wir auf der Fahrt bereits festgestellt. Der Aufstieg zum Gipfel dauert vier Stunden, sodass wir sieben Stunden unterwegs wären. Das ist uns zu lang, außerdem soll es oben neun Grad kälter sein und damit Winter, für den wir nicht ausgerüstet sind. Nach einer Stunde finden wir einen trockenen Stein unter einem Baum, wo wir unseren Proviant essen. Wo Schafskot liegt, ist es trocken; die Tiere kennen ihr Revier wohl am besten. Wir beobachten andere Wanderer, die fast von einer Herde Schafe umgerannt werden, die den Hang hinabstürmt. Ein zartes Mähen bleibt zurück.

Vom Ben Nevis ist es noch eine halbe Stunde Fahrt bis zum Glenfinnan-Viadukt. Der Eisenbahnviadukt wurde etwa ein Jahrzehnt nach dem Rossal House Ende des 19. Jahrhunderts erbaut. Er ist Schauplatz des Hogwarts-Expresses. Zweimal am Tag fährt eine Dampflok die Strecke entlang. Um kurz vor 15 Uhr stellen wir uns oberhalb des Viadukts zu anderen Schaulustigen. Aber nicht alle sind gut drauf.
„Wenn die Leute, die nicht fotografieren, sich nach vorne stellen, krieg ich Aggressionen“, hören wir eine Frau mit schriller Stimme sagen. Und wenig später, als eine weitere Reisegruppe hinzukommt: „Oh nein – Chinesen – die sind die schlimmsten.“ Wenig später steht sie selbst ganz vorne.
Ich zähle mindestens zwei Personen mit Umhängen und Zauberhüten. Die Sonne kommt heraus. Wir warten gespannt. Um 15:15 Uhr verschwindet die Sonne wieder. Wenig später hören wir ein Tuckern, noch bevor wir hinter den Hügeln eine Dampfwolke aufsteigen sehen. Ich bin ganz aus dem Häuschen und fotografiere die Lok, die sich langsam über den Viadukt schiebt. Die Triebfahrzeugführerin und viele Passagiere winken. Kurz darauf beginnt es zu schütten.

Für den nächsten Tag habe ich Burgen Richtung Norden auf der Karte markiert. Die erste ist das Ballone Castle über dem Meer. Nahe dieser begegnen uns Alpakas, neugierig, aber scheu. Auf dem Feldweg kommt uns in der letzten Kurve zur Burg eine Fahrerin mit einem weißen, langhaarigen Hund auf der Rückbank entgegen. Wir kommen an eine Steinmauer, durch die der Weg hindurchführt. Es gibt kein Schild, das einen Privatweg anzeigt und wir beschließen durchzufahren. Ein Mann mit Ohrenschützern schneidet die Hecke und winkt uns strahlend zu.
Vor der Burg parken drei weitere Autos. Spätestens dort wird uns klar, dass die Burg definitiv privat ist. Auf dem engen Vorhof schaffen wir es gerade so zu wenden. Als wir erneut an dem Gärtner vorbeifahren, winkt er uns nochmal schwächer lächelnd zu. Vielleicht ist er der Besitzer der Burg und die Dame mit dem weißen Hund vorhin seine Frau.
Hinter der Mauer halten wir für Bilder. Als ich aus dem Auto steige, blicke ich direkt auf den Rüssel, der sich mir entgegenreckt. Er gehört zu einer großen, braunen Sau. Sie grunzt laut. Jetzt entdecke ich auch die zweite, rosafarbene. Wie haben die beiden es den Hang hinaufgeschafft? Sie sind wild auf die fauligen Äpfel im Eimer außerhalb des Geheges. Wir verfüttern ein paar an sie.

Die Burgruine Skelbo Castle, ebenfalls am Meer gelegen, ist unser zweites Ziel. Wir sind die einzigen Besucher, klettern auf die Ruine und wagen uns in einen dunklen Raum. Dabei ist es schön, mal nicht dem Reiseführer zu folgen, sondern auf eigene Faust zu entdecken und überrascht zu werden.

Nur Dunrobin Castle & Gardens wird in unserem Reiseführer als Märchenschloss empfohlen. Wir sehen uns auch dieses an und halten unterhalb des Schlosses den Finger ins Meer. Die Wellen erwischen meinen Wanderschuh.

In Inverness ist die Brücke zur Insel in der Ness nach dem Hochwasser wieder geöffnet. Uralte Eichen ranken sich auf dieser in die Höhe. Bestimmt standen sie schon zuzeiten der Buckley-Kinder hier. Ich finde sie und ihre Nachkommen auf einer Stammbaumseite.

Am Rückreisetag besuchen wir Perth, von dem eine Postkarte in meinem früheren Kinderzimmer hängt. Auf dem Park-and-Ride-Platz spielt ein Mann Dudelsack. Von hier fährt kein Bus in die Innenstadt, zumindest nicht in der nächsten halben Stunde. Wir fahren mit dem Auto hinein. Kein Problem bei so vielen Parkmöglichkeiten. Die kleine Stadt scheint zur Hälfte aus Autos, Straßen und Parkplätzen zu bestehen.
Wir essen das letzte Mal Pommes und nutzen den freien Eintritt in Perths Kunstgalerie. Franciscus Gijsbrechts, der 1649 in Antwerpen getauft wurde, brachte mit „Still Life with a Violin“ die Vergänglichkeit auf die Leinwand, bevor er 1676 zum letzten Mal Erwähnung fand.

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