#42 Danzig / Gdańsk
Auf der Flughafentoilette lese ich: „Did you know that the astronomer Johannes Hevelius was born in Gdańsk?“ Daniel Gabriel Fahrenheit, Arthur Schopenhauer und Günter Grass auch.
Aber ich bin hier, weil mein Opa in Danzig geboren wurde. Seine ersten siebeneinhalb Lebensjahre verbrachte er im Stadtteil Langfuhr (heute Wrzeszcz). Seine Großmutter betrieb dort ein Fuhrunternehmen, seine Mutter und Tanten hatten das Lyzeum besucht. Mit 17 war seine Mutter mit ihm schwanger geworden, was ihr von der Mutter Schläge einbrachte. Der Vater meines Opas war vom Land in die Stadt gekommen, ein Flötist beim Rundfunk, dessen Vater als Eisenbahnvorsteher arbeitete. Meine Urgroßeltern heirateten, bekamen aber kein weiteres Kind.
Kurz vor meiner Reise nach Danzig schickte meine Mutter mir ein Bild und die Adresse, wo mein Opa mit seiner Familie gelebt hatte. Dorthin mache ich mich auf den Weg. Mit dem Bus geht es an Wäldern, Siedlungen und Kleingärten vorbei. Ich frage mich, ob mein Opa auch hier Kleingärtner geworden wäre, wenn die Familie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nicht hätte fliehen müssen; wenn es den Krieg nicht gegeben hätte. Ein paar Sitze vor mir sitzt ein Mann mit kräftiger Statur, weiter Jeans, Hemd, grauem Haar und Käppi – beinahe so, wie ich meinen Opa in Erinnerung habe.
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In the airport toilet I read: „Did you know that the astronomer Johannes Hevelius was born in Gdańsk?“ Daniel Gabriel Fahrenheit, Arthur Schopenhauer and Günter Grass too.
But I’m here because my grandfather was born in Gdansk. He spent the first seven and a half years of his life in the district of Langfuhr (now Wrzeszcz). His grandmother ran a haulage business there, and his mother and aunts had attended the Lyceum. At 17, his mother had become pregnant with him, which earned her beatings from her mother. My grandfather’s father had come to the city from the countryside, a flautist with the radio, whose father worked as a railway foreman. My great-grandparents married, but didn’t have another child.
Shortly before my trip to Gdansk, my mother sent me a picture and the address where my grandfather had lived with his family. That’s where I set off for. The bus takes me past forests, housing estates and allotments. I wonder if my grandfather would have become an allotment gardener here if the family had not had to flee towards the end of the Second World War; if the war had not happened. A few seats in front of me sits a man with a strong build, wide jeans, shirt, grey hair and cap – almost like I remember my grandfather.
Die Adresse lautet ul. Jesionowa 12, früher hieß die Straße Eschenweg. Als ich aus dem Bus steige, sind es noch sieben Minuten Fußweg dorthin. Eine alte Frau geht leicht gebückt mit einem Einkaufstrolley vor mir her. Ich frage mich, ob mein Opa ihr einmal zufällig über den Weg lief; ob sie vor rund 85 Jahren im Kinderwagen aneinander vorbeigeschoben wurden oder gleichzeitig die Straße entlang rannten.
Seit 1920 war Danzig, das im Zuge des Versailler Vertrags vom Deutschen Reich abgetrennt worden war, ein unabhängiger Staat, der unter dem Schutz polnischer und britischer Truppen stand. Pol*innen machten etwa ein Viertel, Deutsche drei Viertel der Bevölkerung aus. Meinem Opa zufolge lebten beide Gruppen im Großen und Ganzen friedlich nebeneinander, obwohl die Deutschen höhere Positionen besetzten und die Pol*innen Schwierigkeiten hatten, von handwerklichen Jobs zu mehr Ansehen zu kommen.
Kurz vor der Ecke, an der es in die Jesionowa Straße geht, fällt mein Blick auf die Jahreszahl 1936. Sie steht unter dem Namen „KUMMER“ über der Tür eines Geschäfts, dessen Schaufenster Aufnahmen von gerolltem Schinken zeigen. Ich trete ein und sehe zahllose, dunkelrote Würste von der Decke hängen. An die Wand sind Rinder auf hügeligen Wiesen gemalt. Es kommt mir vor, als wäre ich in die Vergangenheit gereist, als meine Urgroßmutter hier Schnitzel kaufte, meinen Opa an der Hand, dessen Fleischkonsum in dieser Metzgerei begann. Mein Opa war Jahrgang 1937.
Die junge Angestellte hinter der Theke sieht mich fragend an. In meiner Faszination frage ich leicht drucksend und mit verklärtem Blick, ob ich ein Foto machen dürfe, das Ladeninnere sehe so schön aus. Dabei deute ich auf die Würste und denke an meine Familie, die sich bestimmt über ein Foto aus Opas Vergangenheit freuen würde. Ein bisschen peinlich ist mein Auftritt schon.
Die Angestellte sagt mit hochgezogenen Augenbrauen, was ich ihr nicht verdenken kann: „Not really“, und ich verlasse den „Kummer“.
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The address is ul. Jesionowa 12, the street used to be called Eschenweg. When I get off the bus, it is still a seven-minute walk there. An old woman walks slightly stooped in front of me with a shopping trolley. I wonder if my grandfather once happened to run into her; if some 85 years ago they were pushing past each other in prams or running down the street at the same time.
Since 1920, Gdansk, which had been separated from the German Reich under the Treaty of Versailles, had been an independent state under the protection of Polish and British troops. Poles made up about a quarter of the population, Germans three quarters. According to my grandfather, the two groups lived peacefully side by side, although the Germans occupied higher positions and the Poles had difficulties moving from manual jobs to more prestige.
Just before turning the corner into Jesionowa Street, I notice the year 1936 under the name „KUMMER“ above the door of a shop whose windows show pictures of rolled ham. I enter and see countless dark red sausages hanging from the ceiling. Cattle are painted on the wall in hilly meadows. I feel as if I have travelled back in time, when my great-grandmother bought schnitzel here, my grandpa by the hand, whose meat consumption began in this butcher’s shop. My grandfather was born in 1937.
The young employee behind the counter looks at me questioningly. In my fascination, I ask with a slight pressure and a transfigured look if I can take a photo, the inside of the shop looks so beautiful. I point to the sausages and think of my family, who would surely be happy to see a photo from grandpa’s past. My appearance is a little embarrassing.
The employee says with raised eyebrows, which I can’t blame her for, „Not really“, and I leave the „Kummer“.
Dann biege ich in die Straße ein, in der meine Vorfahr*innen gelebt haben. Bei der Hausnummer 12 handelt es sich um das dritte Haus rechts. Als ich davor stehe, fühle ich mich bewegt. Die Fassade wurde saniert, seit mein Opa das Haus erst in seinen Fünfzigern wiedersah, aber das Muster der Steine stimmt mit dem Foto überein. Auch der Baum davor steht noch. Über der Tür weht eine polnische Flagge.
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Then I turn into the street where my ancestors lived. Number 12 is the third house on the right. As I stand in front of it, I feel moved. The façade has been renovated since my grandfather only saw the house again in his fifties, but the pattern of the stones matches the photo. The tree in front of it is still there, too. A Polish flag flies above the door.
Ich mache ein Selfie vor dem Haus und fotografiere auch andere Häuser in der Straße, die mir gefallen. Dabei werde ich misstrauisch von anderen Passant*innen beäugt, aber niemand sagt etwas. Früher sah ich Fotos von der Straße und hielt sie intuitiv für die Mitte Danzigs, dabei liegt sie recht weit ab vom Schuss.
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I take a selfie in front of the house and also take photos of other houses in the street that I like. Other passers-by eye me suspiciously, but no one says anything. I used to see photos of the street and intuitively thought it was the centre of Gdansk, but it’s far from the centre.
In die Stadtmitte geht es wieder mit dem Bus. Meine Urgroßeltern fuhren früher mit der Straßenbahn, aber der Bus ist schneller. Als ich aussteige, verliebe ich mich auf den ersten Blick:
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To get to the city centre, we take the bus again. My great-grandparents used to take the tram, but the bus is faster. When I get off, I fall in love at first sight:
Vor dem Hohen Tor aus dem 16. Jahrhundert steht ein bärtiger Mann, bald von Kindern umringt, zu denen er spricht. Ich verstehe ihn nicht und versuche stattdessen den goldenen, lateinischen Schriftzug zu übersetzen.
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In front of the 16th century gate Brama Wyżynna stands a bearded man, soon surrounded by children, to whom he speaks. I don’t understand him and instead try to translate the golden Latin lettering.
Ich lasse das Tor hinter mir, gehe durch den Stockturm, der auf dem vorletzten Bild zu sehen ist, an Bernsteinständen vorbei und stehe kurz darauf vor dem Langgasser Tor, wo meine Großeltern mir das Matroschka-Schachspiel kauften, womit ich irgendwann in der Grundschule während einer langanhaltenden Grippe Schach lernte.
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I leave the gate behind me, walk through the tower Wieża Więzienna oraz Katownia, which can be seen in the penultimate picture, past amber stalls and shortly afterwards stand in front of the gate Złota Brama, where my grandparents bought me the matryoshka chess set, which I used to learn chess with at some point in primary school during a prolonged bout of flu.
Das Langgasser Tor stellt den Eingang zur Długa (deutsch: Langgasse) dar. Diese Straße haut mich völlig aus den Socken. Jedes Haus ist bunt, bemalt und erzählt eine Geschichte. Ich habe gar nicht genug Zeit, mir alle Fassaden, Bilder und Bildhauereien so genau anzusehen, wie es ihnen gebührte.
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The Złota Brama is the entrance to the Długa. This street completely knocks my socks off. Every house is colourful, painted and tells a story. I don’t have enough time to look at all the façades, paintings and sculptures as closely as they deserve.
Auch der Neptunbrunnen ist sehr schön. Er steht am Anfang des Langen Markts. An dessen Ende geht es durch das Grüne Tor – „ans Wasser“, schnappe ich von einer älteren, Deutsch sprechenden Touristin auf.
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The well Fontanna Neptuna is also very beautiful. It stands at the beginning of the Long Market. At the end of the market, you go through the gate Zielona Brama – „to the water“, I hear from an older, German-speaking tourist.
Ich trete durch das Grüne Tor und befinde mich wieder in einer neuen Umgebung. Am Fährterminal werden Bootstouren zur Westerplatte angeboten. Zu der Halbinsel plane ich später mit dem Bus zu fahren. Auf der ersten Brücke über der Motława fühle ich mich dem Meer schon ziemlich nah.
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I step through the gate Zielona Brama and find myself in a new environment again. Boat tours to Westerplatte are offered at the ferry terminal. I plan to go to the peninsula later by bus. On the first bridge over the river Motława I already feel quite close to the sea.
Das Krantor, das auf dem Bild rechts hinter den Schiffsmasten zu sehen ist, ist laut Wikipedia das bekannteste Wahrzeichen der Stadt. Als ich es erreiche, belausche ich eine Stadtführerin, die einer Gruppe auf Englisch berichtet, dass damit Waren angehoben wurden und es zu den ältesten Kränen dieser Art gehört. 1945 brannte das Holz ab, der Stein wurde stark beschädigt, aber der Kran wurde rekonstruiert wie so viele Bauwerke in Danzig, die nach Übernahme durch die Rote Armee am 30. März 1945 zerstört worden waren.
Viele Menschen wurden damals vergewaltigt oder verschleppt. Wer mit dem Notdürftigsten aus der Stadt fliehen konnte, hatte Glück. Mein Opa gehörte dazu, aber musste als Siebenjähriger mitansehen, wie seine Mutter auf der Flucht von russischen Soldaten mehrmals vergewaltigt wurde. Zwölf Jahre später starb sie an Gebärmutterhalskrebs, wofür er die Vergewaltigungen sein Leben lang verantwortlich hielt.
Das Krantor ist nicht das einzige Tor, durch das ich auf schöne Straßen spähe, an deren Ende oft ein Turm oder eine Kirche steht. Eine Muschel zeigt an, dass ich mich hier auf dem Jakobsweg befinde. An einem Tor hängt eine Erinnerungstafel mit dem Gesicht Alexander von Humboldts: „Alexander von Humboldt wurde am 14. Sept. 1840 die Ehrenmitgliedschaft der Danziger Naturforschenden Gesellschaft in Anerkennung seiner Verdienste um die Naturforschung verliehen.“
Ich komme an einem Karussel vorbei, auf der anderen Flusseite steht ein Riesenrad. Eine Ansage dröhnt abwechselnd in Polnisch, Englisch und Deutsch. Mir sind bisher einige ältere, deutsche Tourist*innen, aber keine jüngeren aufgefallen. Im La Guitarra Hostel, das um Längen sauberer, ausgestatteter und günstiger als das Hostel in Kopenhagen ist, fragt mich der Rezeptionist nach meiner Nationalität; normalerweise hätten sie ausschließlich polnische Besucher*innen. Der Pole, mit dem ich mir das Vierbett-Zimmer teile, spricht nur Polnisch und Französisch. Auch sonst bringt mich Englisch in Danzig wenig weiter, muss ich mich in Bäckereien und im Supermarkt mit Händen und kläglichen Versuchen, geschriebene polnische Wörter auszusprechen, verständigen, was von den Angestellten mit wenig Begeisterung aufgefasst wird. An öffentlichen Toiletten mangelt es nicht und ich kann dort auch in Euro anstelle von Złoty bezahlen. In einem Supermarkt lässt mich eine sehr freundliche Kassiererin auf die private Toilette im oberen Stockwerk, wo ich in Büroräumen wer weiß was hätte anstellen können. Das alles aber erst später – noch stehe ich vor diesem Karussell.
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The crane gate Brama Żuraw, which can be seen behind the ship’s masts in the picture on the right, is the city’s most famous landmark, according to Wikipedia. When I reach it, I overhear a city guide telling a group in English that it was used to lift goods and is one of the oldest cranes of its kind. In 1945 the wood burnt down, the stone was badly damaged, but the crane was reconstructed like so many structures in Gdansk that had been destroyed after the Red Army took over on 30 March 1945.
Many people were raped or abducted at that time. Those who were able to flee the city with the most basic necessities were lucky. My grandfather was one of them, but as a seven year old he had to watch his mother being raped several times by Russian soldiers while she was fleeing. Twelve years later she died of cervical cancer, for which he blamed the rapes all his life.
The Crane Gate is not the only gate through which I peer onto beautiful streets, at the end of which there is often a tower or a church. A shell indicates that I am on the Way of St James here. A commemorative plaque with Alexander von Humboldt’s face hangs on a gate: „Alexander von Humboldt was awarded honorary membership of the Gdańsk Society of Natural Sciences on 14 Sept. 1840 for his contribution to science.“
I pass a merry-go-round, on the other side of the river is a Ferris wheel. An announcement drones on alternately in Polish, English and German. So far, I have noticed a few older German tourists, but no younger ones. In La Guitarra Hostel, which is much cleaner, better equipped and cheaper than the hostel in Copenhagen, the receptionist asks me about my nationality; normally they only have Polish visitors. The Pole with whom I share a four-bed room only speaks Polish and French. English doesn’t help me much in Gdansk either, I have to communicate in bakeries and supermarkets with my hands and pitiful attempts to pronounce written Polish words, which is not received with much enthusiasm by the staff. There is no lack of public toilets and I can also pay there in euros instead of złoty. In a supermarket, a very friendly cashier lets me into the private toilet on the upper floor, where I could have done who knows what in offices. But all that later – I’m still standing in front of this carousel.
Dort kehre ich um und gehe durch eines der Tore wieder in den inneren Kern der Stadt, wo ich wieder von einer Vielzahl bunter, alt wirkender Häuser, schöner Gassen und grüner Plätze überrascht werde. Besonders gefällt mir der Platz hinter dem Tor Brama Świętego Ducha:
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There I turn around and walk through one of the gates back into the inner core of the city, where I am again surprised by a multitude of colourful, old-looking houses, beautiful alleys and green squares. I especially like the square behind the gate Brama Świętego Ducha:
Von der Mariengasse hinter dem Frauentor hat meine Oma am Telefon gesprochen. Ich höre noch ihre Worte, als ich dort an Bernsteinhändlern vorbei auf die Marienkirche aus Backstein zugehe: „Kauf da bloß keinen Bernstein!“
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My grandmother spoke of Mariacka street behind the gate Brama Mariacka on the phone. I can still hear her words as I walk past the amber traders towards the brick St. Mary’s Church: „Don’t buy any amber there!“
Von außen wirkt die Marienkirche groß, aber von innen ist sie riesig. Ein Schild am Eingang, auf dem „CISKA“, „SILENCE“ und „SCHWEIGEN“ steht, zeigt an, was in der Kirche alles verboten ist, darunter Handys, Kameras mit Blitz und Kameras auf einem Stativ. Dass man in der Pusher Street in Christiania (Kopenhagen) keine Fotos machen darf, kann ich nachvollziehen, aber was haben die Menschen hier zu verbergen?
Draußen springen Kinder durch den Brunnen der vier Viertel, wo vier Bronzelöwen entspannen und schlafen.
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From the outside, St. Mary’s Church looks big, but from the inside it is huge. A sign at the entrance that says „CISKA“, „SILENCE“ and „SILENCE“ indicates what all is forbidden in the church, including mobile phones, cameras with flash and cameras on a tripod. That you are not allowed to take photos in Pusher Street in Christiania (Copenhagen) I can understand, but what do people have to hide here?
Outside, children jump through the fountain Fontanna Czterech Kwartałów, where four bronze lions relax and sleep.
Das Große Zeughaus sieht einfach toll aus. In dem alten Brunnen zwischen seinen Toren nistet eine hellgraue Taube, deren Vorfahr*innen bestimmt weiß waren. Ich frage mich, ob Tauben evolutionär zur Tarnung vor Fressfeinden das Grau der Straßen angenommen haben. Mitteleuropa war früher im Winter sehr viel weißer. Heute sitzen Tauben mehr im Dreck der Städte als in Kirschblütenbäumen.
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The great armoury Wielka Zbrojownia just looks great. A light grey pigeon, whose ancestors must have been white, nests in the old well between its gates. I wonder if pigeons have evolutionarily adopted the grey of the streets to camouflage themselves from predators. Central Europe used to be much whiter in winter. Today, pigeons sit more in the dirt of the cities.
Im nächsten Park füttert ein alter Mann Tauben, nicht mit Brotkrumen, sondern altmodisch mit Körnern, die sicher nahrhafter als Weißbrot sind. Ich setze mich kurz auf eine Bank und sehe ihm zu.
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In the next park, an old man feeds pigeons, not with breadcrumbs, but old-fashioned grains, which are certainly more nutritious than white bread. I sit down on a bench for a moment and watch him.
Als ich weitergehe, entdecke ich ganz ohne Google Maps die Markthalle. Sie wird noch zum Verkauf von Kleidung und Lebensmitteln genutzt und stellt im unteren Stockwerk archäologische Ausgrabungen aus. Ich fühle mich dort dennoch wie der letzte Tourist auf dem Mars. Vermutlich ruft mir eine Frau zu: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Aber ich verstehe sie nicht.
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As I walk along, I discover the market hall without Google Maps. It is still used for selling clothes and food and exhibits archaeological excavations on the lower floor. Still, I feel like the last tourist on Mars. Probably a woman calls out to me, „How can I help you?“ But I don’t understand her.
Auf dem Weg zum Altstädtischen Rathaus komme ich an der Kleinen Mühle und der Katharinenkirche vorbei.
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On the way to the Old City Hall, I pass the mill Mały Młyn and St. Catherine’s Church.
Vor dem Altstädtischen Rathaus sitzt Johannes Hevelius, der berühmte Astronom des 17. Jahrhunderts, der die Kartografie des Mondes begründete, neue Sternbilder einführte und außerdem als Ratsherr in Danzig wirkte.
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In front of the Old City Hall sits Johannes Hevelius, the famous 17th century astronomer who founded the cartography of the moon, introduced new constellations and also served as a councillor in Gdansk.
An der Brotbrücke hängen Liebesschlösser so dicht wie an der Hohenzollernbrücke:
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Love locks hang as densely on the bridge Most Chlebowy as they do on the Hohenzollernbrücke:
Nun will ich zur Westerplatte. Zum eindrucksvollen Bahnhof Gdańsk Główny führt eine große Unterführung, die einige Geschäfte enthält. Auch zum Bus muss ich durch diese hindurch.
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Now I want to go to Westerplatte. There is a large subway leading to the impressive Gdańsk Główny railway station, which contains some shops. I also have to pass through it to get to the bus.
Als ich nach einer guten Dreiviertelstunde Busfahrt auf der Halbinsel Westerplatte aussteige, sehe ich schon einige Infotafeln, die die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs beschreiben. Ganz früher war die Westerplatte ein beliebtes Urlaubsziel. Ich gehe zum Meer, am Horizont reihen sich Schiffe aneinander.
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When I get off the bus on the Westerplatte peninsula after a good three-quarters of an hour, I already see some information boards describing the prehistory of the Second World War. In the past, Westerplatte was a popular holiday destination. I walk to the sea, ships are lined up on the horizon.
Stacheldraht trennt mich von einem Stück Sandstrand. Der Zaun umgrenzt die heutige Militärzone.
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Barbed wire separates me from a piece of sandy beach. The fence encloses what is now a military zone.
Der genaue Ort und Zeitpunkt der ersten Kampfhandlungen ist umstritten, aber offiziell begann der Zweite Weltkrieg hier. Ab kurz vor Sonnenaufgang beschoss ein deutsches Militärschiff am 1. September 1939 die polnische Garnison auf der Westerplatte. Als ich weitergehe, stoße ich auf eine zerstörte Baracke und weitere Infotafeln. In die Baracke führt ein Podest, sodass Besucher*innen sie betreten können. Allerdings steht vor dem Eingang ein gelbes Schild mit der Aufschrift: „CAUTION! Entry at your own risk. Serious hazard to health and life.“
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The exact place and time of the first fighting is disputed, but officially the Second World War began here. From shortly before sunrise on 1 September 1939, a German military ship shelled the Polish garrison on Westerplatte. As I walk along, I come across a destroyed barrack and more information boards. A platform leads into the barrack so that visitors can enter it. However, there is a yellow sign in front of the entrance that says: „CAUTION! Entry at your own risk. Serious hazard to health and life.“
Vor der Baracke stehen nicht nur moderne Infotafeln, sondern auch alte Metalltafeln mit Namen und Jahreszahlen. Einige Männer starben während des Krieges, manche schon 1939. Der Infanteriesoldat Stefan Jezierski starb am ersten Tag, dem 1. September. Die Baracke stand dauerhaft unter Beschuss und hielt zuerst 500 Kilogramm schweren Bomben stand. Ihre letztendliche Zerstörung durch den Krieg ist offensichtlich. Das Bombardement der Westerplatte dauerte bis zur Kapitulation der Verteidiger am 7. September 1939 an.
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In front of the barracks are not only modern information boards, but also old metal plaques with names and dates. Some men died during the war, some as early as 1939. The infantry soldier Stefan Jezierski died on the first day, 1 September. The barrack was permanently under fire and initially withstood 500-kilogram bombs. Its eventual destruction by war is evident. The bombardment of Westerplatte continued until the defenders surrendered on 7 September 1939.
An den Infotafeln ist nicht nur die Geschichte der Westerplatte, sondern auch des Zweiten Weltkriegs insgesamt nachzulesen. Es handelt sich um ein spannendes Open-Air-Museum vor Ort mit Überbleibseln zweier Baracken und eines Panzerturms sowie diesem großen Denkmal:
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The information boards tell the story not only of Westerplatte but also of the Second World War as a whole. It is an exciting open-air museum on site with the remains of two barracks and a tank turret as well as this large monument:
Als ich die Treppen zu dem Denkmal hochsteige, denke ich daran, dass es mich ohne den Zweiten Weltkrieg nicht gäbe. Meine Mutter, meinen Vater, meine Tante, meine Cousine, meinen Cousin, meine Schwester gäbe es nicht. Es gäbe andere Menschen anstelle von uns. Wir sind eine Folge unzähliger Ereignisse, aber auch eine Auswirkung dieses entsetzlichen Krieges. Nicht nur dass, sondern auch wie wir sind, liegt zu einem nicht unerheblichen Teil darin begründet. Experimente an Ratten haben gezeigt, dass der Stress der Großelterngeneration noch Auswirkungen auf die Genaktivität und den Stress (und damit einhergehend Ängste und Depression) der Enkelgeneration haben kann. Nicht nur mein Opa mütterlicherseits, sondern auch meine Großmutter väterlicherseits machten als Kinder auf der Flucht Schreckliches durch. Meine Oma mütterlicherseits und mein Großvater väterlicherseits durften bleiben, aber auch sie erlebten den Krieg und saßen als Kinder bei Bombenalarm im Keller. Ich habe mich manchmal gefragt, wie viele unserer psychischen Probleme wir, ihre Kinder und Enkel, ohne den Krieg nicht hätten, und die Antwort lautet leider, dass wir ohne den Krieg überhaupt nie gelebt hätten.
Nach diesen düsteren Gedanken renne ich zum Bus. Der Busfahrer wartet die zwei Minuten, die ich für den letzten Kurzstreckenlauf brauche, netterweise auf mich. Er fährt mich zusammen mit weiteren Besucher*innen der Halbinsel zurück in die Innenstadt. Dort besuche ich im Abendlicht, das die Stadt kurz vor der Nacht am schönsten beleuchtet, noch einmal meine Lieblingsplätze, die ich mittags entdeckte, und laufe am Hafen entlang. Ich hatte in Danzig nur einen Tag, aber den habe ich bestens genutzt.
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As I climb the stairs to the memorial, I think about the fact that without the Second World War, I wouldn’t exist. My mother, my father, my aunt, my cousin, my sister would not exist. There would be other people instead of us. We are a consequence of countless events, but also an effect of this horrific war. Not only that, but also how we are, is due in no small part to it. Experiments on rats have shown that the stress of the grandparent generation can still have an impact on the gene activity and stress (and accompanying anxiety and depression) of the grandchild generation. Not only my maternal grandfather, but also my paternal grandmother went through terrible things as children on the run. My maternal grandmother and paternal grandfather were allowed to stay, but they also experienced the war and sat in the cellar during bomb alerts as children. I have sometimes wondered how many of our psychological problems we, their children and grandchildren, would not have had without the war, and the answer, unfortunately, is that without the war we would never have lived at all.
After these sombre thoughts, I run to the bus. The bus driver kindly waits for me for the two minutes I need for the last short distance run. He drives me back to the city centre together with other visitors to the peninsula. There, in the evening light that illuminates the city most beautifully just before nightfall, I revisit my favourite places that I discovered at lunchtime and walk along the harbour. I only had one day in Gdansk, but I made the most of it.
Später am Handy erzählt meine Oma mir eine Geschichte: Einmal wurden mein Opa, seine Tante, der die Großmutter mit dem Lippenstift Pusteln zur Abschreckung von Vergewaltigern ins Gesicht gemalt hatte, seine beiden Cousinen und sein Cousin auf der Flucht von tschetschenischen Soldaten erwischt. Sie sollten sich in einer Reihe aufstellen. Einer der Soldaten hob das Gewehr und zielte auf sie. In dem Moment verstand mein Opa mit seinen siebeneinhalb Jahren, dass sie erschossen werden und sterben würden. Doch dann kam ein Offizier hinzu und verbat dem Soldaten das Erschießen. Auch ohne dieses Erbarmen gäbe es mich nicht.
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Later, on the mobile phone, my grandmother tells me a story: Once, my grandfather, his aunt, whom his grandmother had painted pustules on her face with lipstick to deter rapists, his two cousins and his cousin were caught on the run by Chechen soldiers. They were told to line up. One of the soldiers raised his rifle and pointed it at them. At that moment, my grandpa, who was seven and a half, understood that they were going to be shot and die. But then an officer came along and forbade the soldier to shoot them. Even without this mercy, I would not exist.
Ohne Danzig gäbe es mich nicht. Mein Opa war immer stolz auf die Stadt seiner Vorfahr*innen und bei der Vorstellung, dass sie sich hier kennengelernt haben, fühle auch ich Glück.
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I wouldn’t exist without Gdansk. My grandfather was always proud of the city of his ancestors, and I too feel lucky when I think that they met here.
2 Kommentare
P S
Sehr sehr ergreifender Bericht. Danke, auch für deine Gedanken.
Norbert
Ja, eine tolle Stadt, denke ich und Du hast es mit intetessanten Familiendetails sehr schön beschrieben