Die Kollektivschuld der Deutschen
Das neue Jahr 2017 durfte ich mit Freund*innen und deren Freund*innen im Schrebergarten meiner Mutter feiern. Wer in dieser Silvesternacht in Deutschland draußen war, erinnert sich vielleicht daran, dass sie sehr kalt war. Bei etwa minus zehn Grad knieten wir um Holzscheite herum, die mehr glühten als brannten, als jemand die Kollektivschuld der Deutschen leugnete. Er fand auch Putin gut, aber sein Verspotten der Kollektivschuld fand ich damals sehr viel bedenklicher. Die Deutschen – das waren früher Deutsche. Die Deutschen – das sind heute wir. Ein Volk gibt nicht nur Errungenschaften weiter, sondern auch Verantwortung.
Bei der Annahme der Kollektivschuld der Deutschen geht es weder darum, dass du und ich Individuen sind, die die Verbrechen des Nationalsozialismus‘ nicht begangen oder beobachtet haben, noch darum, was deine oder meine Großeltern, Urgroßeltern oder Ururgroßeltern als Individuen genau gemacht haben. Mein Urgroßvater war Kommunist, aber darum geht es nicht. Mein anderer Urgroßvater hat ein jüdisches Ehepaar in seinem Haus versteckt, aber darum geht es nicht. Meine Urgroßmutter hat angeblich nichts gewusst. Meine andere Urgroßmutter war in der NS-Organisation Bund Deutscher Mädel. In ihrem Fluchtbericht schrieb sie:
„Nach einer Wahlversammlung, auf der Hitler die Menschen wieder beschwörend zu frenetischem Jubel hingerissen hatte, kam er kurz vor dem Ausgang ganz nahe an mir vorbei, eigentlich hatte ich mich rücksichtslos durchgedrängt, um Hitler einmal ganz nahe zu sehen. Er ging direkt an mir vorbei, er machte ruckartige Bewegungen wie eine Gliederpuppe, nicht wie ein normaler Mensch, er schaute mit Augen, die veilchenblau glänzten, starr in die Gegend und machte so einen enttäuschenden Eindruck, dass ich wie mit kaltem Wasser begossen dastand. Plötzlich verstand ich nicht, warum ihm die Leute so zujubelten, das war doch nicht der Mensch, den ich mir immer vorgestellt hatte, das war doch nicht der Hitler, für den ich geschwärmt hatte, ja, er war ja direkt hässlich, nicht wie ein normaler Mensch. An diesem Abend kam ich wie ein begossener Pudel nach Hause. Als Tochter eines Künstlers hatte ich viel Sinn für Schönheit, aber das war ja kein schöner, liebenswürdiger Mann, das war eine Gliederpuppe mit komischen Verrenkungen. Ich schämte mich aber etwas, weil ich doch so für ihn geschwärmt hatte, deshalb erzählte ich vorsichtshalber niemandem davon.“
Vielmehr als seine äußere Erscheinung hätten die Ansichten Hitlers meine Urgroßmutter abstoßen sollen. Als Mitglied der nationalsozialistischen Bewegung lud sie Schuld auf sich. Als Familienmitglied sehe ich es in meiner Verantwortung, über ihre Schuld zu reden, anstatt diese totzuschweigen. Und als Deutsche liegt es in meiner Verantwortung, an die Opfer der Völkermorde durch das deutsche Volk zu erinnern, aus Respekt den Opfern und deren Angehörigen gegenüber und um darüber aufzuklären, welche Gefahr etwa die Macht eines einzelnen „Führers“ birgt – damit sich Geschichte nicht wiederholt, wie man es in heutigen Tagen wieder öfter hört. Was speziell meine Vorfahr*innen getan haben, spielt für diese letztgenannte Verantwortung keine Rolle – meine ganze Familie hätte Jüd*innen unterstützen können und dennoch hätte ich als Deutsche die Verantwortung der Deutschen zu tragen.
Als ich die Holocaust-Ausstellung in Vilnius besuchte (HIER geht es zum Beitrag, in dem ich darüber berichte), fragte mich meine litauische Begleiterin, wie ich mich angesichts der Verbrechen an den Jüd*innen fühle. Es kommt mir falsch vor, zu sagen, dass ich mich nicht schäme, weil Scham automatisch mitschwingt, wenn ich einen solchen Ort besuche. Auf der anderen Seite bin ich nicht persönlich schuld an den Verbrechen, die vor meiner Zeit begangen wurden. Ich trage die kollektive Verantwortung mit, aber keine individuelle Schuld an jenen Verbrechen. Scham blockiert. Von Verantwortungsbewusstsein anstelle von Scham zu sprechen, erscheint mir richtig. Würde analog dazu der Begriff kollektiver Verantwortung zu mehr individueller Offenheit zur Auseinandersetzung und weniger Widerstand führen als das Wort Kollektivschuld? Oder sollte es uns untersagt sein, uns von letzterem zu lösen?
Im Wikipedia-Artikel zur Kollektivschuld steht: „Die Annahme der Kollektivschuld wird mit einer moralischen Verantwortung durch die Zugehörigkeit zu der Gruppe begründet, nicht durch die individuelle Schuldzurechnung. In westlichen Gesellschaften ist dies nicht mit der Moral und dem Gesetz zu vereinbaren. So beruht z. B. das moderne Strafrecht in europäischen Staaten auf dem Grundsatz einer individuellen Verantwortlichkeit. In vielen Teilen der Welt und früher auch in Europa hingegen war kollektivistisches Denken weit verbreitet, nach dem der Einzelne Teil eines Kollektivs (Familie, Klan, Volk) ist und für Taten z. B. von Familienangehörigen bestraft werden kann.“
Es gibt gute und schlechte Menschen anstelle von guten und schlechten Völkern. Von grundlegend schlechten Völkern zu sprechen ist rassistisch. Allerdings handelte es sich etwa bei dem Holocaust um einen Völkermord – aus der Dimension der Individuen wurde die der Völker; aus der Verantwortung des Einzelnen die eines Volkes. Seitdem muss mindestens von kollektiver Verantwortung der Deutschen die Rede sein, die vor allem darin besteht, die Erinnerung am Leben zu halten.