Literatur

Das war meine Musik: Das Warme in E-Musik

Wenn Leute gefragt werden: „Was war deine Musik?“, antworten die meisten mit den Liedern, die sie als Jugendliche hörten. Meine vergangene Musik wird später weniger die sein, die ich heute im jungen Erwachsenenalter höre, als die, die ich als Teenager mochte. Nie mehr werde ich so viel Musik hören wie damals, wird sich mein Geschmack so schnell verändern, werde ich so viel entdecken. Ich wurde in dem Jahr geboren, als der Sänger von INXS Selbstmord beging, 15 Jahre später wurde Mystify eins meiner Lieblingslieder. Die Lieder, die ich als Teenager toll fand, erschienen nicht nur von 2007 bis 2017. Ich bediente mich an der Musik meiner Eltern, Großeltern und Freundinnen, an zerkratzen CDs, DVDs und Schallplatten genauso wie an YouTube, Karaoke-Spielen und Spotify.

Wenn ich mit zehn nach meiner Lieblingsband gefragt wurde, war es entweder Culcha Candela oder ABBA, zu deren Songs ich mich mit der Digitalkamera filmte. Ich erinnere mich noch gut, wie ich in der Grundschule bei einer Halloweenparty zu Hamma tanzte und es zu meinem Lieblingshit wurde, den ich noch heute ähnlich gut mitsprechen kann wie das Glaubensbekenntnis in der Kirche.

In der fünften und sechsten Klasse habe ich im Schulchor die besten Lieder kennengelernt, die es auf der Welt zu geben schien, als passten sie in einen einzigen Ordner voll Folien für den Overheadprojektor: Hallelujah (Leonard Cohen), Leaving on a Jet Plane (John Denver), Puff the Magic Dragon (Leonard Lipton, Peter Yarrow), The Rose (Bette Midler) und Blowin‘ in the Wind (Bob Dylan). In Begleitung des Flügels klangen diese Lieder dreimal so schön wie die Originale. Später bekam ich in Erinnerung daran feuchte Augen, als der Chorleiter in meiner Klasse eine Vertretungsstunde gab und I Like Chopin (Gazebo) mit uns sang.

An den Autofahrten mit meinem Vater zu einer Burg oder einem Fluss waren die CDs, die lose in seinem VW-Bus herumlagen, das Beste. So merkwürdig mir manche Lieder vorkamen, ein paar ließ ich immer wieder laufen: Starman (David Bowie), Mrs. Robinson (Simon & Garfunkel), The Logical Song (Supertramp), Cathedral (Crosby, Stills & Nash), Lady in Black (Uriah Heep), Time of the Season (The Zombies), Seasons in the Sun (Terry Jacks), Am Tag, als Conny Kramer starb (Juliane Werding), Teenager Liebe und Grace Kelly von den Ärzten.

Über meine Mutter habe ich Hot Chocolate, a-ha, Anastacia, Robbie Williams, Bon Jovi, Seal, Rosenstolz und Eros Ramazzotti entdeckt. Ich habe Ferientage damit verbracht, mir Musikvideos aus den 80ern anzusehen, die ich auf DVDs im Schrank gefunden hatte. Eine Zeitlang hörte ich am liebsten Gold (Spandau Ballet), Eternal Flame (The Bangeles), Africa (Toto), Wherever I Lay My Hat (Paul Young) und Kayleigh (Marillion).

Dabei frage ich mich: Ist der Musikgeschmack etwas, das wie Persönlichkeitseigenschaften zur Hälfte aus genetischen und zur Hälfte aus Umwelteinflüssen gemacht wird oder etwas von vorneherein Festgelegtes wie unsere Sexualität? Zumindest ist er nicht unumstößlich – ohne eine Freundin hätte ich Lana Del Rey vielleicht nie gemocht, aber nach einem Wanderurlaub mit ihr gehörten Ultraviolence und Born to Die plötzlich zu meinen Lieblingsliedern. Genauso erinnert mich Cool Kids (Echosmith) an diese Freundin und eine Zugfahrt nach Weimar. Sie hatte nichts für ältere Songs übrig, Cooler Than Me (Mike Posner).

Ich mochte die Radiosender am meisten, die immer wieder Maria (Blondie), Valerie (Steve Winwood), Sunglasses at Night (Corey Heart), Blinded by the Light (Manfred Mann’s Earth Band) und Heart of Glass (Blondie) spielten. Dass ich One Way or Another von One Direction mochte, kam mir zuerst merkwürdig vor – bis ich feststellte, dass die Boygroup damit den ursprünglichen Song von Blondie gecovert hatte. Filme aus den 80ern brachten mir die Lieder Footloose (Kenny Loggins), Holding Out for a Hero (Bonnie Tyler) und The Time of My Life (Bill Medley, Jennifer Warnes) nahe. Ich war überzeugt, dass es eine Zeit gegeben hatte, zu der auf Partys bessere Musik lief als zu meiner.

Und das, obwohl der DJ bei meinen ersten Discobesuchen mit 14 Give Me Everything (Pitbull), Dynamite (Taio Cruz) und Narcotic (Liquido) auflegte. Obwohl ich auch Songs aus den aktuellen Charts – She Doesn’t Mind (Sean Paul), Glow (Madcon), I Gotta Feeling (Black Eyed Peas), Welcome to St. Tropez (DJ Antoine) oder Rock the Boat (Bob Sinclair) – sehr mochte. Ich gehörte vielleicht zu den Letzten, die einen fremden Jungen weinen sahen, als eine Band Crying at the Discotheque (Alcazar) spielte. Ich hörte auf dem Schulweg im Radio, wie Ed Sheeran mit The A Team berühmt wurde, meine Lieblingslieder von ihm wurden Small Bump und Kiss me. Meine beste Freundin zeigte mir unter anderem Advertising Space von Robbie Williams, Walzer für dich von Pur sowie Manchmal haben Frauen und Rebell von den Ärzten. Memories von David Guetta nahm ich am selben Tag von YouTube auf wie American Pie (Don McLean), I Don’t Like Mondays (The Boomtown Rats) und Seven Nation Army (The White Stripes). Meine von Taschengeld gekauften CDs von Whitney Houston, Tracey Chapman, David Bowie, Lionel Richie und Queen erinnern daran, wen ich neben Coldplay, Amy Macdonald und OneRepublic besonders mochte. Die Liste meiner Lieblingslieder war voll von Liedern aus den 60ern (z. B. Build Me Up Buttercup von den Foundations, The Boxer von Simon & Garfunkel), 70ern (z. B. Cosmic Dancer von T. REX, Baker Street von Gerry Rafferty), 80ern, 90ern, frühen 2000ern und „heute“. Und das war der Trost: Dass die „guten, alten Zeiten“ vorbei waren, bedeutete nicht nur, dass ich ihre Musik nicht als aktuelle Hits feiern durfte. Ich hatte mehr Musikauswahl als die Leute, die zu diesen Zeiten jung gewesen waren; jüngere, schöne Lieder machten diesen Reichtum erst aus.

Als ich studieren ging, war ich mit den altbekannten Oldies größtenteils durch. Ich hatte sie so oft gehört wie Ältere, die heute sagen: „Dieses Lied ist so alt, so lange her, ich kann es nicht mehr hören.“ Ich mochte zu der Zeit besonders Placebo, Kuult und Revolverheld, die singen: „Die Radios spielen das Beste / Aus den letzten Jahrzehnten / Und den schlimmsten Quatsch / Von Heute und Morgen.“ Dann sah ich die Rocky Horror Picture Show von 1975 im Unikino und hörte Science Fiction/Double Feature, Sweet Transvestite, Eddie, Rose Tint My World und I’m Going Home in Dauerschleife. Es gibt immer noch ältere Schätze, auf die ich hin und wieder stoße, und das ein oder andere neue Lied, das mich begeistert. Aber nie wieder wird der Genuss so groß und gebündelt sein wie damals, als ich auf eine Vielzahl richtig guter Lieder zum ersten Mal stieß, als „das Beste der Jahrzehnte“ für mich neu war.

Der persönliche Musikgeschmack kommt mir so individuell vor wie der eigene Fingerabdruck. Vielleicht verändert er sich nicht und es ist nur deshalb, weil wir Songs zur Genüge gehört haben, dass wir sie nicht mehr gut finden und das Genre wechseln. Vermutlich prägen jedoch frühe Musikerfahrungen, was wir später mögen. Wahrscheinlich verändert sich unser Geschmack mit uns. Die meisten Lieder meiner Teenagerjahre höre ich heute nicht mehr. Aber wenn ich darauf stoße, denke ich mit einem Glücksgefühl: „Das war meine Musik!“
Mit keinem Lied, an das ich mich erinnere, verbinde ich etwas Negatives – ein Zeichen, dass Musik alles nur besser macht, selbst negative Erfahrungen in der Jugend.
Ich habe die Lieder gesammelt (und viele bestimmt vergessen). HIER geht es zur Playlist, die sich in einem Text nicht zusammenfassen lässt.

Anmerkung: Im Nachhinein habe ich recherchiert, warum wir einen bestimmten Musikgeschmack haben und er sich im Laufe des Lebens verändert – und darüber den Beitrag Die Psychologie hinter der Musik verfasst.

4 Kommentare

  • castorpblog

    Sehr interessant deine Reise durch die Musik. Ich bin jetzt 58 Jahre alt und kenne natürlich die ganzen alten Sachen, die du auch gehört hast, ich war aber immer auch offen für Neues. Musik ist für mich sehr stark mit Situationen verbunden, in denen ich sie gehört habe. So so konnte ich z.B Someone like you von Adele lange nicht hören, weil die die Zwillingsschwester einer Nachbarin das bei der Beerdigung ihrer Schwester auf der Gitarre gespielt und dazu gesungen hat. Umgekehrt bekomme ich immer noch Schmetterlinge in den Bauch, wenn ich Lessons in love von Level 42 höre oder In this Cage und Afterglow von Genesis, weil das die Musik meiner ersten Liebe war. Es war auch eine Frau, die mich zu Tom Waits führte, der mittlerweile einer meiner Lieblingssänger ist, weil er in seinen Liedern eine unglaublich dichte Stimmung webt. Er beamt mich förmlich in die Südstaaten der USA, aber ganz anders als Linnard Siknnard, was nicht so meine Musik war. Was mich am meinsten Beeinflusst hat war der Punk und noch mehr die Indi Musik meiner Jugend. Joy Division, Bauhaus, Sisters of Mercy, Bad Relegion, Green on Red, Smiths etc…

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