Gesehen werden
„Wir alle haben das Bedürfnis, von jemandem gesehen zu werden. Man könnte uns in vier Kategorien einteilen, je nach der Art von Blick, unter dem wir leben möchten.
Die erste Kategorie sehnt sich nach dem Blick von unendlich vielen anonymen Augen, anders gesagt, nach dem Blick eines Publikums. […]
Zur zweiten Kategorie gehören die Leute, die zum Leben den Blick vieler vertrauter Augen brauchen. […]
Dann gibt es die dritte Kategorie derer, die im Blickfeld des geliebten Menschen sein müssen. […]
Und dann gibt es noch die vierte und seltenste Kategorie derer, die unter dem imaginären Blick abwesender Menschen leben. Das sind die Träumer.“ – Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Wenige Stunden vor der Lesung spielte ich Billy Joels Piano Man auf dem Klavier hoch und runter. Es gehört zu den Stücken, die ich über die Zeit kaum verlernt habe. So oft habe ich die Geschichte über den Pianisten, der in einer Bar ein paar vertrauten und unbekannten Gesichtern begegnet, die ihn auffordern, ein Lied zu spielen, beim Üben mitgelesen. Die Barbesucher hoffen, ihr Leben eine Weile zu vergessen und ich setzte mich an diesem Nachmittag aus einem ähnlichen Grund ans Klavier. Ich wollte meine Aufregung senken, mit Tönen einen Ausgleich zu Worten schaffen – und mich andererseits genau mit diesem Song samt Text auf den bevorstehenden Abend einstimmen.
Ich würde möglicherweise erstmals vor einem völlig fremden Publikum lesen. Mein Liebster war zu weit weg und meine Verwandten und Freunde wollten entweder nicht in ein Risikogebiet fahren und sich in einem Raum mit etwa sechzig Personen aufhalten (wofür ich vollstes Verständnis hatte), waren mit Kranken oder Toten beschäftigt, selbst krank oder alt oder andere Herausforderungen zu bewältigen.
Als ich in den Zug stieg, dachte ich darüber nach, warum ich mich auf eine Bühne und noch dazu in die nächste Großstadt ins Risikogebiet begab. Ich bin introvertiert, mag keinen abendlichen Trubel und stelle mich ungerne ins Rampenlicht. Als ich noch Klavierunterricht nahm, blieb ich dem jährlichen Klassenvorspiel gerne fern. Dass ich mich dennoch jedes Mal freue, wenn ich meine Texte der Öffentlichkeit präsentieren darf, woran liegt es? Dass mir Schreiben viel bedeutet und meine Persönlichkeit hinter dem Wunsch, es anderen zu zeigen, zurücktritt? Oder dass ich glaube, es zu können und auf diese Weise gesehen werden will? Vermutlich ist es eine Mischung aus beidem.
Ich stieg aus, ließ die S-Bahn-Station hinter mir, die Straßen kamen mir bekannt und fremd zugleich vor, die Stadt kannte ich im Großen und Ganzen, aber nicht diese Ecke, der Himmel schien matt über der untergegangenen Sonne, der Name des Theaters tauchte groß und senkrecht an einer Hauswand auf. Zum ersten Mal ging ich einem Auftritt allein entgegen, wie die Profis. Zugleich beschlich mich die Hoffnung, dass vielleicht doch jemand von denen, die gehadert hatten, kommen würde.
Zwei der vier anderen Poet*innen waren bereits da, wir gingen Backstage, tauschten uns aus, besprachen den Ablauf, die beiden anderen Lyriker*innen kamen, wir hörten die ersten Gäste von draußen, ich trank einen Liter Wasser und bekam keinen Bissen herunter, zitterte eine Stunde vor Beginn, aber wurde beim Soundcheck ruhig. Als ich abermals aufs Handy schaute, ob jemand geschrieben hatte, las ich neben der Nachricht meines Liebsten, der mir „ganz viel Spaß“ wünschte, die Nachricht meiner Mutter, dass sie vor der Tür stehe. Wow. Sie hatte es geschafft, trotz ihrer Angst. Ich freute mich sehr.
Als der Einlass begann, lauschte ich den Eintretenden und mir war, als würde ich die Stimmen meiner Freund*innen hören, ihr Lachen. Die Stimme meiner Mutter vernahm ich sicher. Ich stellte mir vor, es nähmen noch mehr vertraute Menschen auf den auseinandergerückten Stühlen der Zuschauerreihen Platz. Es ging mir wie dem lyrischen Ich in Goethes Zueignung.
Die ersten beiden Auftritte sah ich von der Seite, hinter der Bühne. Es war vom ersten Moment an wunderbar. Ich sah das Publikum nicht, aber wusste, dass es meinen imaginären Freund*innen und Familienmitgliedern einschließlich meiner Mutter sehr gefallen würde. In dieser herztrommelwirbligen Situation waren sie für mich da, auch wenn sie fehlten.
Ein extralauter Applaus begrüßte mich. Ich setzte mich wie beim Limbo, ohne das Mikro zu berühren. Der Moderator stellte es ein und ich begann zu lesen. Hin und wieder blickte ich auf, sah gegen das Scheinwerferlicht aber nur Silhouetten im Dunkeln. In der Mitte meinte ich die Umrisse meiner Mutter auszumachen, ansonsten erkannte ich niemanden, bildete mir aber ein, dass links jemand saß, der Fotos machte und vorne trug jemand Schuhe, die mir bekannt vorkamen. Obwohl ich das Publikum kaum sah, interagierten wir miteinander; ich las immer lebhafter und sicherer und das Publikum schwieg oder lachte. Es schien sich um ein sehr nettes Publikum zu handeln, das aus meiner Familie und meinen Freunden hätte bestehen können.
Nach mir kamen ein sehr humorvoller und ein sehr weiser Vortrag, die ich aus der ersten Reihe genoss.
Erst als wir später zu fünft auf der Bühne standen und die Zuschauer abschließend applaudierten, wurden sie sichtbar. Meine Mutter saß immer noch dort, wo ich sie vermutet hatte und ich war gerührt; sie hatte damit mehr geschafft als ich. Sie blieb die einzige Person, die ich kannte. Nicht alle Plätze waren besetzt, aber die meisten.
Später signierte ich Bücher und ein paar Leute kamen zu mir, bedankten sich und sagten, es habe ihnen gut gefallen.
Schön, Teil der Show gewesen zu sein, die den Menschen, die da waren, vielleicht ein wenig Freude und Ablenkung bereitet hatte in dieser schwierigen Zeit. Ich habe über mich gelernt, zu welcher Kategorie ich nach Kundera gehöre. Und warum ich Piano Man heute noch spiele.