Mit dem Deutschlandticket über Bremen, Schwerin und die Mecklenburgische Seenplatte nach Berlin
Mit dem Deutschlandticket über die Mecklenburgische Seenplatte nach Berlin, das ist unser Plan. In zwei Koffern transportieren wir unsere mobile Herberge, aber in Bremen geht es erst mal in ein Hostel. Da gibt es gratis Kakao aus der Maschine, ich trinke abends und morgens jeweils zwei. Folge dem Uringeruch, dann kommst du automatisch in die Pissecke und findest die Bremer Stadtmusikanten, hat ein Freund aus Bremen gesagt. Aber die Statue steht auf dem Vorzeigeplatz der historischsten Gebäude, wo Seifenblasen gemacht werden.
Esel, Hund, Katze, Hahn. Die Reihenfolge, die du seit deiner Kindheit nicht vergisst. Ich telefoniere. Unser Hund ist seit mehreren Tagen in der Tierklinik und lebt noch, aber es geht ihm unverändert schlecht.
Meine Highlights in Bremen sind das Spielegeschäft Highlander Games, die altehrwürdige Böttcherstraße mit der Bonbonmanufaktur und dem Kunsthandwerk, Bremens ältestes Viertel Schnoor mit Kunstgalerien und echtem Stadtmusikant und die Wallanlagen mit der Windmühle und dem Stadtgraben, der die Altstadt im Zickzack umrandet. Auf der anderen Seite das gemütliche Weserufer.
Schwerin lockt mit seinem Märchenschloss Lehramtsstudierende in das einwohnerarme Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Hungrig ziehe ich den Koffer durch den Schlosspark. Wir finden einen Schattenplatz und lassen uns Pizza hinliefern. Nebenan gibt es eine öffentliche Toilette und eine Oldtimer-Ausstellung mit DeLorean.
Hier erhalte ich die Nachricht. Unser Hund ist gestorben. Auf dem Bahnhofsvorplatz warten wir eine Stunde auf den Bus. Der Tod zerschlägt die Zeit. Auf diesem Platz ist etwas geschehen, das sich zu einer Black Story machen lässt. Nachdem Marianne sagte: „Gott sei Dank, dann gibt es Frieden!“, wurde sie ermordet. Was ist passiert?
Ich löse auf: Die Lehrerin Marianne Grundthal wurde 1945 von SS-Leuten an einer Laterne hier auf diesem Platz erhängt, nachdem sie so auf die Nachricht von Hitlers Tod reagiert hatte. Heute ist der Platz nach ihr benannt. Jetzt beobachten wir Skinheads, die auf dem Grundthal-Platz untereinander eine Prügelei beginnen. Dabei wird ein dritter Mann mit dunklem Hauttyp geschubst. Einer der Skinheads rennt in den Bahnhof, der andere stürzt auf dem Weg dorthin und stützt sich mit dem Ellbogen ab, es sieht aus wie ein ulkiger Stunt. Aber ganz und gar nicht witzig. Wir rufen die Polizei.
Auf der Busfahrt weine ich. Ein Sonnenblumenfeld zieht vorbei. Seit dem Ukraine-Krieg werden mehr Sonnenblumen gesät. Auf dem Seehof-Campingplatz schlagen wir unser Zelt auf. Manchmal hilft nicht mal der oder die See. Zum Einschlafen bekommen wir das Hörspiel der Nachbarskinder mit.
In Bützow wollten wir sie eigentlich treffen, zusammen mit dem Hund. In der Bahnhofsunterführung sehen wir Hakenkreuze. Oberirdisch gibt ein Wandspruch Hoffnung:
Der Bus fährt nur alle zwei Stunden, heute am Sonntag nicht, was bedeutet: Vierzig Minuten Kofferziehen. Auf dem Weg sehen wir mehrere schmale Hühnergehege zwischen Bach und Haus. Der Kanu-Zeltplatz liegt wieder am See. Auf der Wiese steht ein zum Wohnmobil umfunktioniertes Feuerwehrauto. Das Wasser ist eiskalt, ich schwimme trotzdem ein paar Züge. Der Kleinstadtimbiss bietet sogar Asianudeln an, mit Dönerfleisch. Dazu Fanta. Als wir an der Fritz-Reuter-Feuerwehrwache vorbeikommen, halten wir Fritz Reuter noch für einen Feuerwehrmann. Der Schlauchturm ist alt, daneben das Gebäude der Bützower Zeitung, die 1945 verboten wurde. In dem Bibliotheksgebäude, sonntags geschlossen, befand sich einst die kleinste Uni Europas. An einem Haus mit grundschulhaft bemalten Fensterläden bleiben wir stehen. Oben öffnet sich ein Fenster. Ein Mann schaut heraus: „Was wollen Sie? Nur gucken, achso.“ Ein anderes Haus scheint wirklich gesehen werden zu wollen, so neonorange mit lila Fachwerk. Und wieder ein anderes sieht aus wie die Villa Kunterbunt.
Am nächsten Tag geht es weiter nach Jabel. Der Bahnhof Jabel liegt weit ab vom Schuss und genauso weit vom Campingplatz entfernt wie in Bützow. Dabei passiert die Bahnstrecke das 589 Einwohner zählende Jabel direkt. Wer dachte, hier einen Haltepunkt hinzubauen, hat nicht an Fußgänger:innen wie uns gedacht, die die lange, baumlose Straße bis Ortseingang zu Fuß zurücklegen müssen. Hier fährt gar kein Bus. Ein Fahrradfahrer macht sich über uns lustig: „Darf ich mich hinten dranhängen?“ Wir ziehen die Koffer wir Fußfesseln hinter uns her.
Im Ort begegnet uns Fritz Reuter ein zweites Mal. Auf nicht zu übersehenden Infotafeln erfahren wir, dass er nicht Feuerwehrmann, sondern Dichter war. Zur Erholung von siebenjähriger Haft besuchte der damals Anfang Dreißigjährige im Herbst 1841 seinen Onkel, der in Jabel Pastor war. Die Fritz-Reuter-Eibe im Schatten der Dorfkirche ist Jabels Hauptsehenswürdigkeit. Eiben können tausend Jahre alt werden.
Zwei Nächte verbringen wir auf dem Campingplatz an Jabels See, wo wir im wahrsten Sinne des Ortes in die Natur eintauchen, im See schwimmen, Steinböcke füttern und versuchen, eine Waldwanderung zu machen, wobei uns ein Fluss einen Strich durch die Landschaft macht. Inzwischen erkenne ich: Hier an der Mecklenburgischen Seenplatte kämen wir am besten mit dem Boot weiter, aber wir sind nunmal mit Zug und Zelt unterwegs.
Das einzige offene Restaurant in Jabel an diesem Abend ist die Taverna Korfu, leider schon ausgebucht. Wir dürfen aber zwei Gerichte zum Mitnehmen bestellen. Damit setzen wir uns auf den Spielplatz und stellen uns vor, wir wären in Griechenland. Der Preis lohnt sich, nach unzähligen Milchbrötchen genieße ich jede einzelne Bohne.
Im Damenwaschraum weist mich eine Frau darauf hin, dass ihr Mann gerade unter der Dusche stehe. Wenig später, ich putze immer noch Zähne, kommt er heraus, ich gucke geradeaus in den Spiegel. Er grüßt mich und verrät mir, dass für diese Dusche kein Münzeinwurf nötig sei.
Am nächsten Tag besuchen wir mit dem praktischen Bahnwagon zwischen Waren und Malchow von Jabel aus diese beiden Städte. Die Schaffnerin kennt uns inzwischen und möchte unser Deutschlandticket nicht mehr sehen.
Die Inselstadt Malchow zieren Seen, eine Altstadtinsel, ein Kloster und ein Rathaus, das wie ein ehemaliges Gefängnis aussieht. An der Goetheschule steht: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Es gibt ein öffentliches Toilettenhäuschen mit Geschlechtertrennung und selbst in der Altstadt eine Autoschlange. Fahrradwege sehe ich dort nicht, nur eine Radfahrerin, die uns auf dem Bürgersteig an-„rinnnnnnnnng“-t, mit der Stimme, als wir das erste dieser Fotos schießen:
In Waren ist deutlich mehr los, bei mehr Geschäften und Lokalen in der Fußgängerzone. In einem Buchladen entdecke ich eine Ausgabe von „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ von Theodor Fontante. Von hier bis zum Havelland ist es nicht weit. In der fünften und sechsten Klasse mussten Leute das Gedicht bei dreimal vergessenen Hausaufgaben auswendig lernen und aufsagen. Die ersten vier Verse weiß ich immer noch.
Spätabends kommen unsere neuen Zeltnachbarn betrunken zurück. Bei ihren lauten Stimmen bin ich hellwach. Nach fünfzehn Minuten verstummen sie. Unmittelbar danach setzt ein unsägliches, sägendes Schnarchen ein, das bis zum Morgen anhält.
Mit den Koffern laufen wir ein viertes und letztes Mal zum Jabeler Bahnhof. Wieder steht frisch geerntetes Gemüse zum Verkauf vor einem Haus. Letzte Woche haben wir Freundinnen bei der Feldernte geholfen und dabei Erbsen gesnackt. Jetzt nehmen wir uns zehn Schoten als Belohnung für den Weg mit und werfen einen Euro in die Kasse. Als wir endlich ankommen, öffne ich die erste Schote und nehme ein paar Erbsen in den Mund, schlucke. Sie schmecken säuerlich. Mithilfe einer App finden wir heraus, dass es sich um italienische Stangenbohnen handelt. Und die können ungekocht schon in geringen Mengen tödlich sein. Ich spucke aus, was ich noch im Mund habe – wie viele Samen ich geschluckt habe, kann ich nicht sagen. Wir trinken unsere Flaschen leer und kaufen nach der ersten Zugfahrt in der Apotheke Kohletabletten, von denen ich vier kaue.
Anschließend nehmen wir den Zug nach Fürstenberg. Wir schauen auf die Uhr. Drei bis vier Stunden nach Verzehr der Bohnen sind Magen-Darm-Symptome zu erwarten. Am Wasserwandercampingplatz an der Havel wollen wir später unser Zelt aufschlagen. Darüber befinden sich die Touristeninformation und das Polizeirevier. In der Touristeninfo dürfen wir unsere Koffer bis 18 Uhr lassen.
Als wir ein Fischbrötchen am See essen, erspähen wir am gegenüberliegenden Ufer das ehemalige Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Wir nehmen den halbstündigen Fußweg auf – auch hier fährt der Bus nur alle zwei Stunden. Auf dem Gelände befindet sich heute eine Jugendherberge. Wir besichtigen die Gedenkstätte und das Museum (Eintritt frei), bis wir losmüssen, um den Bus zu kriegen. An der Haltestelle können wir nur auf der gegenüberliegenden Seite stehen. Auf der richtigen werden wir von Ameisen überfallen.
Fürstenberg gefällt mir von allen bisherigen Städten am besten. An der Havel sitzen wir in Liegestühlen, essen eine Kugel Eis für 80 Cent wie in alten Zeiten und beobachten jugendliche Schwäne mit ihre Mutter. Was die Vergiftung angeht, sind wir inzwischen aus dem Schneider. In einer Postenbörse besorgen wir einen Kugelschreiber. Zuerst meint die Verkäuferin, sie würden keine verkaufen, aber sie könne uns einen schenken, dann mischt sich die andere Verkäuferin ein und weist darauf hin, dass sie doch welche für 79 Cent hätten. So wenig nachgefragt seien Kugelschreiber heutzutage. Wir gehen auch noch zu dem anderen See, über die Brücke, wo sich beide Seen berühren, und stehen mit den Beinen im Wasser.
Nachdem wir die Koffer abgeholt haben, bereiten wir auf dem Wasserwandercampingplatz unser Nachtlager. Wir setzen uns auf den Steg und halten die Füße in die Havel. Ein Kanute legt an und baut sein Zelt auf. Gegen 20 Uhr kommt der Platzwart und sammelt fünf Euro für unseres ein. Die Nutzung der Sanitäranlagen ist kostenfrei. Abends toben sich drei Jungs darin aus und gegen 23 Uhr wird unser Zelt mit Blumen beworfen, ansonsten ist die Nacht auf dem öffentlichen Platz ohne Vorkommnisse. Am Morgen sieht der Platzwart wieder nach dem Rechten und berichtet 1.) von einer etwa 70-jährigen, die schon mehrmals hier zu Gast war und die Strecke Berlin-Kopenhagen fährt und 2.) von einer über 90-jährigen aus Potsdam, die mit ihrer Familie zu Gast war und noch auf einer Luftmatraze schlief. Der Platzwart und die Polizei hätten mit Ansprachen dafür gesorgt, dass es mit störenden Jugendlichen viel besser geworden sei; viermal die Nacht fahre die Polizei auch Streife am Zeltplatz vorbei.
Auf dem Weg zum Bahnhof sehe ich eine Straße, die nach Fritz Reuter benannt ist. Eine Stunde dauert die Zugfahrt nach Berlin. Dort wohnen wir in einem Hostel im Ortsteil Prenzlauer Berg, der mir auf Anhieb gefällt mit den vielen ansprechenden (und leckeren!) Lokalen und Läden. Als erstes geht es in die schöne Buchhandlung an der Ecke vor dem Hostel. Vor manchen Häusern stehen Kartons mit Inhalten zum Mitnehmen. Dabei werde ich um neun Bibi Blocksberg- und Benjamin Blümchen-Kassetten reicher. Als Kind habe ich Neustadt immer bei Berlin verortet – und mich zu dieser Stadt hingezogen gefühlt.
Das Hostel erregt Ekel, in den Duschen steht das Wasser und in den Toiletten gibt es nicht mal Klopapier. Unsere Mitbewohner sind sympathisch, verbringen die Nacht außerhalb und begegnen uns am nächsten Morgen auf dem Weg zum Bäcker.
Vor vier Jahren waren wir das erste Mal zusammen in Berlin (HIER geht es zu den Beiträgen über jene Reise). Diesmal gehen wir zum Haus der Poesie, das sich seit einem Festival zu meinem Bedauern offenbar in Sommerpause befindet. Wir besuchen eine Ausstellung zum Alltag in der DDR, den Tränenpalast, das Sony-Centre, die Charité, das Außenministerium, wo eine Freundin von mir arbeitet, die Flak-Türme, die Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße und die 1,3 Kilometer lange East Side Gallery. Die DDR-Bürger:innen waren 28 Jahre eingesperrt, länger, als ich lebe.
In Kreuzberg holen wir uns im Kiosk ein kühles Getränk auf die Hand, werden angesprochen, ob wir Koks kaufen wollen – möchten wir nicht – und schlendern in den Görlitzer Park, wo wir eine tolle Entdeckung machen: Ein Streichelzoo mitten in der Stadt. Da gibt es Maultiere, Esel, Kaninchen, Ponys, Ziegen, Schafe, Laufenten, Gänse, Hühner und Hähne. Am Tor hängt eine Warnung: Der junge Hahn werde aggressiv, wenn man den Hühnern zu nahe komme.
Irgendwo in Charlottenburg lese ich: Ernst-Reuter-Platz. So hieß der in Jabel als Pastor tätige Onkel von Fritz, dem Dichter, den ich vor dieser Reise nicht kannte.
Wir besuchen die Bücherei in Tegel und die Stadtbücherei am Wasserturm. Beide begeistern mich, insbesondere die Lyrikregale. Ein Parallelgedicht zu „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ der Kiezpoeten nimmt Gauland auf die Schippe (ersetze Ribbeck und Havelland durch Gauland). Der „Gesang eines Fahrrads“ von Markus Henn aus dem Jahrbuch der Lyrik 2020 gefällt mir ebenfalls sehr (HIER könnt ihr es nachlesen).
Schließlich geht es vom riesigen, gläsernen Berliner Hauptbahnhof, der mir in Anbetracht des Klimawandels eine architektonische Fehlkonstruktion scheint, zurück nach Hause. Laut Handy-Schrittzähler haben wir jeden Tag zwischen 10.000 und 21.000 Schritte gemacht. Der ICE fliegt nur so dahin. Und vorher mit der Regionalbahn ging es auch. Es geht.