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Lied vom tosenden Kind

Don’t you tell me what you think that I could be
I’m the one at the sail, I’m the master of my sea
– Imagine Dragons

Dr. Blankenstein

Dorian ist mein erster Fall. Vor neun Monaten empfing ich ihn und seine Mutter Dorothea in meiner Praxis am Meer zum ersten Mal. Dorothea hat bei der Namensgebung offenbar gewusst, wie Dorian mit 16 aussehen würde: blond, leicht gebräunt und mit ausgeprägten Wangenknochen. Seine Mutter strahlte mich mit gebleichten Zähnen an, schönheitsoperiert von der Stirn bis zu den Brüsten. Sie brachte Dorian jedoch zu mir, weil sie mit seiner inneren Schönheit unzufrieden war.
Beim feuchten Händedruck sah Dorian an mir vorbei. Seine Stimme klang unerwartet hoch. Meine Fragen beantwortete er knapp, während sich auf seinem Hals rote Flecken bildeten und er an den Fingern knibbelte. Er schaute immer wieder zur Uhr, ein klares Zeichen, dass er das Gespräch am liebsten vermieden hätte. Auch seine Antworten passten zum Bild eines sehr introvertierten Menschen, der unter seiner Stille leidet.
Ich erklärte den beiden, dass die Medikamente mehrere Wochen brauchen, um zu wirken. Dabei benutzte ich dieselbe Metapher, die ich Patient*innen mitgebe, die fragen, warum es ihnen mit Antidepressiva nicht sofort besser geht: „Stellen Sie sich den kaum besuchten Supermarkt unserer Kleinstadt vor, wo nur eine Kasse besetzt ist. Die anderen Kassen sind nach Jahren des Stillstands defekt. Vor dem Supermarkt halten jedoch plötzlich regelmäßig dutzende Busse und laden hunderte Tourist*innen zum Einkaufen ab. Zuerst stehen alle an der einzig funktionierenden Kasse und kommen nur langsam voran. Die Kassen müssen erst mal repariert und neues Personal eingestellt werden. Das geht nicht von heute auf Morgen.“
Den genauen Wirkmechanismus meines Produkts jahrelanger Arbeit behielt ich für mich und auch, dass ich sicher bin, eines Tages den Nobelpreis dafür zu bekommen. Als mein erster Fall und Vorzeigegesicht wird Dorian in die Geschichte eingehen wie die Patientinnen Freuds.
Ich versprach Dorian, ihn perfekt zu machen.
Und tatsächlich – als ich ihn einen Monat später wiedersah, war er nicht wiederzuerkennen.

Theo

Dorian gehört jetzt zu uns. Der Junge raubt mir die Worte. Früher voll der Streber, über den ich Witze reißen konnte, ohne dass er sich wehrte. Jetzt TNT. Beim Flaschendrehen mit den Jungs und Emily habe ich mein Markenzeichen an ihn verloren, weil er mehr Liegestütz geschafft hat als ich: die Kette mit Perlen aus dem Meer. Sogar Emily, die schwarze Schönheit, hat ihn auf die Wange geküsst. Das war schmerzhaft – mich zu küssen, hat sie sich vorher geweigert. Und Dorian hat nicht die Wahrheit darüber gesagt, woher er plötzlich seine Energie nimmt. Er wollte uns weiß machen, er sei von Natur aus so. Ist er aber nicht.
Es hat nicht lange gedauert, bis alle wussten, was ihn verändert hat und mit verändert meine ich komplett ausgewechselt. Seine Schöpferin ist in allen Nachrichten unterwegs. Diese Blankenstein, nicht seine Mutter. Auch Dorian gibt krasse Interviews und ist auf Titelseiten und auf TikTok zu sehen. Bald soll eine Doku über ihn gedreht werden als erster Mensch auf Extra, so heißt das Zeug, das er nimmt. Scheißteuer isses und im Gegensatz zu Dorian habe ich es nicht nötig. Ich habe ADHS und will nicht wissen, wie ich auf Ex abgehen würde.
Gestern habe ich vorm Bahnhof mehrere Touribusse halten sehen und für Dorian ein Foto von dieser plötzlichen Invasion unseres Kaffs gemacht. Hier gibt es nur das Meer, sonst nichts. Dorian macht uns am Ende noch berühmt. Auch ich als sein Bestie könnte es werden. Ich habe mir schon eine neue Perlenkette gekauft, die wir im Partnerlook tragen, wie Eheringe. No homo.
Apropos Homo. Dorians altem Kumpel Khalid würde ich am liebsten die Fresse polieren. Manchmal starrt er uns so intensiv an, dass ich fürchte, er kommt gleich zu uns rüber und sticht uns ab. Was guckst du, fragen meine Blicke dann und Khalid dreht sich um und geht.
Wie konnte sich Dorian nur mit so einem Schisser abgeben? Dorian ist ein Hai. Sogar den weiten Sprung von meinem Dach in den Pool hat er sich getraut und ist nicht gestorben. Das war die Mutprobe zur Aufnahme in unsere Gang. Er ist der Einzige, der sich so weit ins Meer traut wie ich. Wer von den anderen Jungs kann das behaupten? Die anderen stehen daneben und klatschen. Sollen sie. Große Männer wie Dorian und ich brauchen ein Publikum. Mein Smartphone filmt seinen Bizeps, den er spielen lässt, für TikTok. Anschließend wird er meinen Bizeps aufnehmen. Und dann wollen wir mal sehen, wer den größeren hat.

Dorothea

Dorian ist mein einziger Sohn und endlich kann ich sagen: mein ganzer Stolz. Merlin wollte, dass Dorian tosend wird, wie das Meer, wie er, und mit ihm die Welt umsegelt, doch Dorian wurde ein stilles Wasser, tief und schmutzig. Als Merlin ertrunken ist, bevor er sein Traumland Amerika erreichte, war Dorian ein Jahr alt. Das Erbe machte ihn zu einem reichen Baby. Ich hatte es zuerst für Dorians Startkapital nach der Schule vorgesehen, aber damit aus dem Jungen ein erfolgreicher Mann wird, braucht es mehr als Geld und Bildung. Es braucht die toughen Eigenschaften eines Geschäftsführers, die Dorian von klein auf gefehlt haben.
Ohne Vater aufzuwachsen, hat ihm geschadet. Sicher war auch Khalid mit seinen Büchern und Schachspielen der falsche Umgang für ihn. Ein einziges Mal war ich froh, als ich nach Hause kam und das Durcheinander sah, das die beiden veranstaltet hatten. Sie haben sich in einer Kissenburg vor mir versteckt, aber ich habe sie nicht ausgeschimpft. Ich hätte Dorian gerne öfter wild erlebt.
Verrückt, dass der Tag, der sein Schicksal in eine neue Richtung lenkte, nun schon wieder fast ein Jahr her ist. Ich wartete an diesem Tag an der Kasse, die gerade unbesetzt war. Hinter mir stand eine Frau in einem dunkelblauen Hosenanzug und mit einer viel zu großen Sonnenbrille, mit der sie aussah wie eine Kampfwespe. Sie fragte mich, wofür ich so viele Energydrinks bräuchte. Ich sagte ihr mit einem Seufzen, für meinen Sohn, der die Nächte vorm Computer verbringt. Die Unbekannte stellte mir Fragen, etwa, wie viele Freunde Dorian hat. Zu dem Zeitpunkt war es nur Khalid. Sie sagte, sie könne das ändern. Sie verkaufe etwas Gesünderes und Wirksameres als Energydrinks. Dabei lächelte sie gewinnend und drückte mir ihre Visitenkarte mit dem QR-Code zu ihrer Website in die Hand.
Anfangs war ich skeptisch, dass Pillen das Problem lösen, aber ich will nur das Beste für meinen und Merlins Sohn und Dr. Blankensteins Website versprach, ihn perfekt zu machen. Lass keine Chance im Leben ungenutzt, auch die riskanten nicht, hatte Merlin mich gelehrt. Ich sah die Sprungschanze gekommen, dass Dorian doch noch ein tosendes Meer wird.

Khalid

Dorian war mein bester Freund. Manche behaupten, mehr als das. Wir kennen uns länger als diese Idioten ihn, so lange, dass er in der ersten Klasse dachte, mein Name hätte etwas mit dem Wort Lied zu tun. Irgendwann hatte ich echt Herzklopfen wegen ihm. Der schöne, stille Geheimnisvolle, ja, ja. So still war er gar nicht, wenn wir zusammen waren. Wer auch immer die Tante ist, die sich einbildet, über ihn urteilen zu können, hätte ihn sehen sollen, als wir einmal aus allen Matratzen, Decken und Kissen im Haus – auch aus dem Bett seiner Mutter – eine Burg bauten und darauf herumsprangen, so doll, dass wir mit den Köpfen fast an die Decke stießen. Später sind wir ganz aus der Puste in den Berg gekrochen. Wir lagen unter derselben Bettdecke, die wie er roch, und ich konnte seinen Atem spüren. Seitdem sehne ich mich nach diesem Moment zurück – nicht nach dem lauten, nach dem ruhigen.
Genau wie nach den Tagen mit ihm am Strand, wenn er mit einer Engelsgeduld nach Ammoniten suchte, nur weil sein Vater vor seiner Geburt einen für seine Mutter ausgebuddelt hatte. Ich bin ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Nachdem er heimmusste, habe ich weiter für ihn gesucht und so einen steinernen Kopffüßer gefunden. Ich habe ihn aus- und wieder eingegraben, kurz bevor Dorian am nächsten Tag wiederkam. Er hat nichts gemerkt und sich riesig darüber gefreut. Wenn ich mit Dorian zusammen war, spürte ich keine Wut, keine Angst, keinen Neid und keinen Hass. Dorian machte mich nicht perfekt, aber zu einem besseren Menschen.
Selbst wenn ich ihn heute auf dem Schulhof beobachte, wie er um dieses Mädchen herumtänzelt, dessen Haut noch dunkler ist als meine, oder den Mund zum Lachen mit Theo aufreißt, will ein Teil von mir daran glauben, dass er denselben wunderschönen Kern hat wie früher. Das Kind des Meeres in ihm ist nur nicht mehr zu sehen, wenn er mit Idioten abhängt und macht, was Idioten machen.
Dabei war Findet Nemo bis vor einem Jahr noch sein Lieblingsfilm, bei dem wir Krabbenchips vom Asia-Imbiss gesnackt haben und bei den explodierenden Ballons, die keine Ballons waren, jedes Mal zusammengezuckt sind, obwohl wir den Moment des Knalls längst genau bestimmen konnten. Dorian ist nicht schuld, dass es diesen Moment nicht mehr gibt. Die-deren-Namen-ich-nicht-nennen-will ist es.
Er hat die Behandlung über sich ergehen lassen, aber am Anfang wollte er nicht, da bin ich mir sicher. Ich kannte ihn und spürte, wie es ihm geht, auch wenn er zumachte, wie damals – Dichtmachen war ein Zeichen seines Widerstands.
Auch mit Theo und seinen Jungs hätte er sich ohne die Räumung seines Hirns nie abgegeben. Schon gar nicht, nachdem Theo mich Schwuchtel genannt hat.
Dorian hat es gehasst, wenn ich ihn liebevoll Dorie nannte, und das zum Anlass genommen, sich von mir abzuwenden. Er hat sich genervt weggedreht und ist in der nächsten Pause zu Theo gegangen.
Für mich ist Findet Nemo zu Findet Dorie geworden.
Jeden Tag laufe ich an Plakaten vorbei, auf denen Dorians Gesicht prangt. Das macht es schwerer, ihn zu vergessen. Er hängt überall, wie ein Spitzenkandidat. Sein Lächeln war schon immer die wirksamste Waffe gegen mich.
Wenn ich neben seinem Lächeln die Aufschrift „Tausche meine Intro-Version gegen die beste Extra-Version von dir!“ lese, wünsche ich mir für einen Moment selbst diese verdammten Wunderpillen, damit wir wieder zusammenpassen. Aber ich brauche gar nicht erst darüber nachzudenken, dafür haben meine Eltern kein Geld.
Ich muss mit dieser beschissenen Wahrheit in meinem Hirn leben. Den Dorian, den ich kannte, gibt es nicht mehr.

Emily

Dorian war für mich namenlos, als ich ihn bemerkte. Als hätte Gestein plötzlich zu leuchten begonnen und sich in einen Stern verwandelt, der erst noch benannt werden muss. Er ist ein Jahrgang unter mir und war mir in der Schule nie aufgefallen, bis er auf dem Gang einen Flickflack machte. Als Superreichen kannte ich aus seinem Jahrgang nur Theo, den ich gefragt habe, wie dieses wandelnde Zirkuswunder heißt. Theo hat mir nur den Vornamen genannt, den ich gegoogelt habe.
Seitdem weiß ich, was Dorian bedeutet: Geschenk des Meeres oder Kind des Meeres. Der Name passt zu seinen grünblauen Augen – ich hätte ihm denselben gegeben.
Erst dachte ich, Dorian käme auf mich zu, aber er klatschte Theo ab. Ich konnte mich in den Smalltalk der beiden einklinken und direkt mit Dorian connecten. Er plante, in den Sommerferien einen Surfkurs zu machen und da ich surfe, seitdem ich zehn bin, konnte ich ihm ein paar Tipps geben.
Seitdem bin ich mit den beiden und noch ein paar anderen, mit denen ich mich sonst eher nicht abgegeben hätte, Best Friends – im Grunde nur wegen Dorian. Er ist das einzige Model außer mir in dieser hässlichen Stadt.
Nur gegen das Meer kann ich nichts sagen, wenn es daliegt, wie an jenem sonnigen Apriltag, als ich Dorian in Neoprenanzügen die erste Surfstunde gab. Endlich einmal nur wir zwei, ohne den Rattenschwanz nerviger Jungs an seinem Knackarsch. Ich konnte nicht anders, als mir anhand der sich abzeichnenden Muskeln vorzustellen, wie Dorian unter dem Anzug aussieht.
Er ist immer wieder vom Brett gefallen und immer wieder hat das Meer ihn mit einem Lachen neu hervorgebracht, dieses Geschenk des Meeres. Wir blieben bis zum Ende der blauen Stunde.
Danach standen wir uns atemlos gegenüber. Die Bretter lagen im Sand und wir machten keine Anstalten, sie aufzuheben.
Warum bist du nicht schon früher vor mir aufgetaucht, habe ich ihn gefragt und mir hat gefallen, wie er mich daraufhin geküsst hat – als würde er diese Frage verschlingen.
Nach einer gefühlten halben Stunde lösten wir uns voneinander. Er hat behauptet, es sei sein erster Kuss gewesen. Ich habe so getan, als würde ich ihm nicht glauben. Für Dorian gibt es an diesem Ende der Welt nur mich.

Captain

Dorian ist einer meiner besten Schüler, aber eigentlich war er das schon immer. Ich habe die Frau gegoogelt, die ihn und inzwischen schon 64 weitere Personen im ganzen Land als Versuchskaninchen benutzt, und mich in die Psychologie der Big Five eingelesen. Wer ist diese Neurowissenschaftlerin, über deren Werdegang und Leben ich nichts finden konnte? Wann ist sie hierhergekommen? Ich habe mich in meinem Bekanntenkreis umgehört und niemand hat ihre „Praxis am Meer“ je besucht, geschweige denn, wurde auf das Praxisschild am Haus aufmerksam.
Wie es aussieht, will Dr. Blankenstein uns über die medikamentöse Einstellung unserer fünf Hauptpersönlichkeitseigenschaften zu perfekten Menschen umpolen. Bisher hat sie nur ein Mittel für mehr Extraversion gefunden, aber sie will das Ganze auch für die anderen vier großen Eigenschaften – Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität und Offenheit für Erfahrung – machen. In ihren Augen ist der perfekte Mensch möglichst gesellig, freundlich, fleißig, gelassen und unternehmungslustig.
So wie Dorian jetzt – nachdem er vier der fünf großen Eigenschaften schon immer mitbrachte.
Ich denke an den Dorian zurück, den ich in der 7. Klasse kennengelernt habe. Er hat gewissenhaft seine Hausaufgaben erledigt, war friedliebend, interessiert am Unterricht und soweit ich das beurteilen kann, hatte er keine psychischen Probleme. Ich selbst sah mich in dem Glück, sein Talent im Schreiben entdecken und fördern zu dürfen. Nur als gesellig, ungehemmt, energiegeladen, durchsetzungsfähig und risikobereit – alles Merkmale der Extraversion laut Blankenstein – habe ich Dorian nicht erlebt. Er bewegte sich im Spektrum Extraversion–Introversion auf der anderen Seite, war nachdenklich und in sich gekehrt. Das hat sich in den letzten Monaten geändert.
Im Kollegium habe ich durchweg positive Reaktionen auf Dorians Veränderung mitbekommen. Im Lehrkräftezimmer höre ich ständig seinen Namen.
„Dorian? Sehr einnehmend.“
„Was für ein begeisterungsfähiger junger Mann.“
„Ein aufstrebendes Talent in Mathe.“
„In Sport auch!“
„Ich sehe ihn vielmehr als unseren künftigen Bundeskanzler.“
„Hast du die Doku mit ihm schon gesehen?“
„Auch für meine Kinder habe ich mich schon um Extra beworben, aber wir stehen noch auf der Warteliste – die ist so lang, noch länger als für Psychotherapie, worauf wir ebenfalls schon seit vier Monaten warten.“
„Für Extra bin ich sogar bereit, einen Kredit aufzunehmen.“
„Ich wünschte, mein Kind wäre ein bisschen mehr wie Dorian.“
Ich selbst habe keine Kinder, Schüler*innen haben mir immer genügt. Wenn es mit dem Eingriff in unser Bewusstsein so weitergeht, könnte ich jedoch bald meinen Job los sein.
Dorian hingegen ist längst ein Star. Im Unterricht zeigt er rund um die Uhr auf, gibt bei Gruppenarbeiten den Ton an und auch mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm 15 Punkte zu geben, was schon zu wütenden Elternmails geführt hat. Von Doping ist die Rede. Mir macht das Sorgen, aber vor allem Dorians Blick vorhin, als er sich unbeobachtet wähnte, hat mich beunruhigt. Er schaute düster drein, aber nur kurz, dann grinste er wieder über beide Ohren, als Theo ihm etwas zugeflüstert hat.
Jetzt will er wieder etwas von mir. Ich freue mich ja für ihn, dass er mehr aus sich herauskommt. Aber ist das echt? Ist es Dorian?
Ich persönlich mochte den Jungen lieber, der mir nach der Stunde etwas wortkarg ein neues Gedicht oder eine Geschichte gegeben hat.

Reporter

„Dorian, inwiefern hat sich dein Leben verändert, seit du Extra nimmst?“
„Sie meinen, abgesehen davon, dass Sie mir gerade das Mikro hinhalten und ich ins Fernsehen komme?“
„Ganz genau.“
„Nun, von außen betrachtet habe ich jetzt eine Freundin, bin Schulsprecher und viel mehr im Meer. Ich bin sehr viel freier und beliebter geworden und sehe einer vielversprechenden Zukunft entgegen.“
„Was hält die Zukunft für dich bereit?“
„Nach der Schule auf jeden Fall Reisen. Das wollte ich schon immer, aber jetzt spüre ich diesbezüglich mehr Sicherheit, wenn ich mir vorstelle, wie ich zum Beispiel in Australien work-and-travel-mäßig von einer Farm zur nächsten ziehe.“
„Lässt du deine Freundin zu Hause?“
„Emily plant selbst ein Jahr als Au-pair in Amerika und will sich da von mir nicht abhalten lassen. Ich hoffe, das darf ich hier sagen.“
„Macht dir die Vorstellung einer Fernbeziehung keine Angst?“
„Mir macht generell nichts mehr so schnell Angst.“ Dorian lacht. „Emily und ich finden uns vom Typ her beide schnell in neue Gemeinschaften ein. Auch das hat sich mit Extra für mich geändert.“
„Das klingt alles sehr positiv. Gibt es auch etwas, das du an Extra bemängelst?“
„Es sind sehr viele Pillen jeden Tag zu schlucken. Das kostet Energie und Zeit, allein daran zu denken, und es wäre schön, irgendwann eine Depotspritze stattdessen zu bekommen, damit ich mir die Tabletten sparen kann, die ich brauche, um so zu sein, wie ich bin.“
„Wie bist du denn, Dorian?“
„Ich schätze, so, wie ich immer sein wollte.“

Dorian

Ich bin Dorian. Früher war ich jemand, der die Nächte mit Energydrinks durchgeschrieben hat. Ich war mutig, dem Captain, der eine Frau ist, etwas davon zu zeigen. Heute bin ich mutig, indem ich von Dächern springe, mit Reportern rede und mit Emily den nächsten Schritt wage. Früher schöpfte ich meine Energie aus dem Alleinsein, heute fühle ich mich auf Partys und in Gruppen am wohlsten.
Eben habe ich mich hingesetzt und wollte etwas schreiben. Ich hänge noch an meinem alten Traum, Schriftsteller zu werden, aber das Schreiben langweilt mich, seit ich mich mit 20 Pillen täglich aufputsche. Viel zu schnell springe ich wieder auf und drehe Imagine Dragons lauter. Früher hätte ich sie nicht gehört – einen ihrer lyrischsten Songs habe ich nur entdeckt, weil ich jetzt härtere Bässe brauche. Sie singen, dass ich alle Wörter sagen werde, die in meinem Kopf sind, und erzählen verrückterweise genau meine Geschichte:

I was broken from a young age
Taking my sulking to the masses
Writing my poems for the few
That look at me, took to me, shook to me, feeling me

Singing from heartache from the pain
Taking my message from the veins
Speaking my lesson from the brain
Seeing the beauty through the…

Mein Gesangseinsatz: Pain! You made me a, you made me a believer, believer.
Dr. Blankenstein hat mich an mich glauben lassen, wie es vorher nur der Captain geschafft hat – nur ging es bei Dr. Blankenstein nicht um das, was ich mit Stift und Papier sagte, sondern um meine Persönlichkeit.
Pain! You break me down and build me up, believer, believer.
Selbst meine Mutter glaubt jetzt an mich. Die 20 Pillen am Tag sind es wert, dass die Worte jetzt aus meinem Mund statt von Hand sprudeln.
Nach dem Song kopple ich das Handy mit den Kopfhörern und gehe im Regen joggen. Die Straßen sind leer, die Chance geringer, dass ich von Groupies gestoppt werde. Der nächste Track kommt noch aus meinen alten Playlists. The Mute von Radical Face handelt von meiner Vergangenheit: Eine Person, die als Kind meist mit sich selbst, den Wolken, den Hunden, den Toten gesprochen hat, als Last empfunden wurde und eines Tages fortgegangen ist. Nur dass ich noch hier bin, in dieser Stadt, die viel zu small für mich ist, mit diesem antiken Sound auf den Ohren, der viel zu lame klingt.
Als ich schon zwei Straßen weiter bin, fällt mir auf, dass ich heute Morgen die Tabletten vergessen habe. Shit! Das ist mir noch nie passiert. Ich hoffe, es ist okay, wenn ich das innerhalb der nächsten Stunde nachhole. Renne ich halt.
Ich erreiche den Strand, wo Khalid einen Ammoniten gefunden und mich total unauffällig an die Stelle geführt hat, damit ich ihn als Erster entdecke. Ich habe die Spuren gesehen, die seine Hände hinterlassen hatten, es ihm aber nicht gesagt. Und hier habe ich Emily geküsst, eine Frau, bei der ich früher keine Chance gehabt hätte. Heute bin ich hier allein. Alleinsein ist etwas, das ich auch nicht mehr so gut kann.
Die Wellen sind gerade selbst zum Surfen zu hoch. Der glatte Boden, über den sie ziehen, federt besser als jede Laufbahn auf dem Sportplatz.
Der Song läuft zu Ende. Komisch, dass ich ihn so lange ertragen habe. Ich spüre eine lange nicht mehr gekannte Angst aufsteigen. Ich will nicht zurück, weder nach Hause zu meiner Mutter noch zu meinem alten Selbst. Und plötzlich, mit nur einem Gedanken, bricht es aus mir heraus wie der Wolkenbruch. Ich bleibe stehen, stecke die Kopfhörer zum Handy in die Hosentasche und presse die Fäuste gegen die Wangen.
Dinge, die ich früher geliebt habe, liebe ich nicht mehr: Das Schreiben, Schach, Bücher, Findet Nemo und Ammoniten. Khalid aber liebe ich noch und mir wird mit einem Schlag bewusst: Ich habe meinen besten Freund verraten, um in einer Gruppe mitzutanzen – genau das, was wir früher gemeinsam verachtet haben – nur um mittendrin zu sein. Ja, ich habe den Nervenkitzel gefühlt und genossen, mit Taten, über die ich vorher nur geschrieben hatte. Dabei bin ich aber gar nicht dazu gekommen, mir eine entscheidende Frage zu stellen.
Ich brülle sie in den Wind: Wer bin ich? Und zum Meer: Sag es mir!
Ich ziehe die Schuhe aus, Socken, Hose und Shirt gleich mit und sprinte in Boxershorts los. Obwohl mein Körper vorbereitet ist, trifft mich die Wucht der ersten Welle unerwartet.


Flynn Wilde alias „tintenstiller“

Dorian bin ich schon vor ein paar Jahren in einem Park begegnet. Nach einer Stunde war er wieder verschwunden und hat sich ewig nicht blicken lassen. Eines Morgens hat er mich erneut wachgeküsst und an den Schreibtisch begleitet. In diesen Tagen war ich bei einer Chorprobe – der lautesten Aktivität, der ich seit langem nachgegangen bin – und habe dort mit Believer von Imagine Dragons seine Geschichte gesungen, die teilweise auch meine ist, wie das bei Schriftsteller*innen oft so ist. Dorian, wie auch andere Stimmen in diesem Text, betrachte ich als Anteile von mir. In diesem Text habe ich es mit einem Chor versucht.
Ich begeistere mich für Psychologie wie Dr. Blankenstein. Wie Khalid pflegte ich die beste Freundschaft der Welt und hatte Herzklopfen bei einer Person, von der ich es nicht erwartet hatte. Ich musste mich gegen die Männerwelt behaupten, wie Emily, hatte Glück, dass mich meine Deutschlehrerin trotz meiner ruhigen Art sah, und zweifelte genau an dieser Art. Auch ich wäre manchmal gerne anders gewesen.
Inzwischen habe ich die Frage für mich beantwortet, ob Introversion in unserer Gesellschaft genauso willkommen sein sollte wie Extraversion. Sollte sich jemand diese Frage stellen, empfehle ich das Buch Still: Die Kraft der Introvertierten von Susan Cain.
An dieser Stelle beschäftigt mich der Nachhall des Endes. Kommt da noch was? Spuckt das Meer Dorian wieder aus? Wie geht es dann mit ihm weiter? Stirbt er nach einem riskanten Sprung von einer Klippe, hört er heimlich auf, die Tabletten zu nehmen, wird er Schriftsteller, Therapeut, ein erfolgreicher CEO, glücklich oder unglücklich, …?
Zum Glück kann ich mich hier in meinem Blog mit der Kommentarfunktion an euch Lesende wenden und die Verantwortung für dieses Kind wieder abgeben. Sagt ihr es mir!

Ein Kommentar

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    DORIAN

    Das Wasser hat mich gewaschen, aber nicht befreit. Ich liege jetzt am Strand, keuchend, das Salz brennt auf meiner Haut. Die Sonne ist längst untergegangen, nur der Horizont glimmt noch nach, wie ein stilles Feuer unter der Oberfläche.

    Ich höre mein Herz. Es schlägt laut, nicht nur in meiner Brust, sondern in allem – in der Luft, im Sand, sogar im Meer. Ich warte darauf, dass eine Antwort kommt. Vom Wind, von den Wellen, von irgendetwas. Doch da ist nichts. Nur ich. Und das Wissen, dass ich nichts weiß.

    Aber da, mitten in diesem leeren Raum, ist eine neue Art von Ruhe. Keine, die beruhigt – eher eine, die erlaubt. Sie erlaubt mir, schwach zu sein. Leer. Ein Anfang.

    Ich ziehe mich langsam an. Die Kleidung klebt kalt an meiner Haut, aber ich spüre, wie ich zurückkehre. Nicht zu dem, der ich war, sondern zu dem, der ich noch werden kann.

    Mein Handy vibriert in der Hosentasche. Eine Nachricht. Von Khalid.

    „Du fehlst.“

    Zwei Worte. Kein Vorwurf. Kein Spott. Nur das: Du fehlst.

    Ich starre auf den Bildschirm, dann tippe ich:

    „Ich weiß. Ich mir auch.“

    Ich schicke es ab. Kein langes Erklären. Die Wahrheit liegt in der Geste. In der Hoffnung.

    Vielleicht ist das der Trick: Nicht alles reparieren wollen, sondern neu aufbauen. Von innen. Mit den Händen, mit der Stimme, mit etwas, das wirklich mir gehört. Vielleicht schreibe ich. Vielleicht fahre ich weg. Vielleicht gehe ich zu Khalid.

    Ich gehe los, barfuß. Die Musik lasse ich aus. Ich brauche keine andere Stimme mehr.

    Nur meine.

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