Schottland: Edinburgh
Wie ein Kirchturm ragt das Monument Sir Walter Scotts in den Nachthimmel. Nicht umsonst schafft er es in unseren ersten Blick, meinen ersten Satz. Mit seinen Werken hat der Schriftsteller Schottland berühmt gemacht. Vor ihm kam nur der Dichter Robert Burns. Im Writer’s Museum hängt ein Bild, auf dem Ersterer als blonder Junge zu Letzterem aufschaut. Nach Scott kam ein zweiter Robert: Stevenson mit der Schatzinsel und dem seltsamen Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Allen drei Autoren gehen wir im Writer’s Museum auf die Spur. Leider fehlt dort Sir Arthur Conan Doyle, Sherlocks Schöpfer. Der Eintritt in dieses Museum – wie in die meisten Museen Schottlands – ist frei.
In der Altstadt kommen wir an Deacon Brodies Taverne vorbei. Deacon Brodie führte ein Doppelleben, das Stevenson zu Dr. Jekyll und Mr. Hyde inspirierte. Tagsüber war Brodie fromm, wohlhabend und als Tischler und Stadtrat gut angesehen. Nachts war er ein Spieler und Dieb, mit fünf Kindern und zwei Geliebten, die nichts voneinander wussten. Er wurde erhängt, nur ein paar Schritte von der Taverne entfernt, die an ihn erinnert.
Als wir weitergehen, wird Gitarrengesang von einem Dudelsack abgelöst. Auf dem Marktkreuz thront ein Einhorn. Das schottische Nationaltier wurde in Abgrenzung zum englischen Löwen gewählt, passend zum Glauben an ein Seeungeheuer und Geister.
Wir betreten die St. Giles‘ Cathedral, die Hauptkirche Edinburghs. Um Geistliche mit den Kirchgänger*innen auf Augenhöhe zu setzen, wurde der Altar in die Mitte gerückt. Im 16. Jahrhundert hatte ein Mann namens John Knox die schottische Reformation eingeleitet. Als King Charles I. im 17. Jahrhundert eine anglikanische Kirche in Schottland etablieren wollte, der Altar wieder nach hinten gerückt wurde und ein neues Gebetsbuch zum Einsatz kam, warf die Marktverkäuferin Jenny Geddes ihren Stuhl gegen den Kopf des Priesters und rief: „Teufel, du hast Koliken im Bauch, falscher Dieb, du wagst es, mir die Messe ins Ohr zu sagen?“
Kurz darauf flogen unter Höllengeschrei weitere Stühle, Bibeln, Stöcke und Steine. Die sich entzündenden Aufstände nahmen bürgerkriegsähnliche Züge an und erzielten u. a. einen Pakt gegen die Neuerungen. An Jenny Geddes erinnert heute das Denkmal eines dreibeinigen Stuhls. Edinburgh zählt mehr Statuen von Hunden als von Frauen. Geht dies noch auf John Knox‘ Frauenfeindlichkeit zurück? Der Reformator liegt hinter der Kathedrale unter Parkplatz Nummer 23 begraben, hat an anderer Stelle aber eine Statue bekommen.
Ein Hund, dem gleich mehrere Denkmäler gesetzt wurden, hieß Bobby. Der Friedhofsgärtner von Greyfriars Kirkyard fegt Laub von Bobbys Grab, als wir auf einer Bank einen Apfel essen. Ein großes Grab für einen kleinen Hund. Zwei Stauen zeigen ihn: eine auf dem Grab und eine vor dem Friedhof. Zwei der nächsten Bars sind nach ihm benannt. Bobby war zwei Jahre alt, als sein Besitzer starb, und er soll fortan jede Nacht auf dessen Grab gesessen haben. Vierzehn Jahre lang.
Wir suchen und finden Gräber, die J. K. Rowling zu Namen der Figuren in „Harry Potter“ inspiriert haben könnten, auch wenn sie jegliche Inspiration durch Edinburgh abstreitet. Obwohl wir sie für ihre Tweets über Transpersonen scharf kritisieren, denken wir an den echten Gräbern von Thomas Riddell, Elizabeth Moodie, William McGonagall und einer gewissen Familie Black an die junge Frau, die die Autorin vor 30 Jahren war. „Non omnis moriar“ lesen wir auf einer Steintafel unter einer Schlange, die sich um ein Gefäß mit geschlossenem Deckel schlingt. Durch die Gitterstäbe des Tors neben William McGonagalls Grab sehen wir die George Heriot’s Privatschule, die sowohl Waisen als auch Kinder wohlhabender Eltern aufnimmt sowie die Schülerinnen und Schüler jährlich in vier Häuser einteilt und in Wettkämpfen gegeneinander antreten lässt.
Über manchen Gräbern befinden sich Gitter zum Schutz vor Grabräubern, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts Leichen ausgruben und an die Anatomie der benachbarten Universität verkauften. William Hare und William Burke wurden bei dem raren Angebot an Leichen zu Serienmördern. Burke zahlte dafür am Galgen, nachdem Hare ihn in einem Geständnis, mit dem er selbst der Strafe entging, verraten hatte. Ich will Burkes Skelett im Anatomiemuseum sehen, aber dieses ist zurzeit geschlossen.
Der Besuch der Uni lohnt sich trotzdem. Über dem Eingang der McEwan Hall ist bildhauerisch dargestellt, wie ein Professor einem Studierenden traditionell einen Hut aufsetzt, was stark an den Sprechenden Hut aus Harry Potter erinnert… Und wo wir schon wieder dabei sind: Es klingelt in der Harry-Potter-Welt bei „Borgin and Burkes“ in der Nokturngasse, direkt neben der Winkelgasse, für die die gewinkelte Victoria Street mit früherem Besenladen und einem ausgestellten Notizbuch aus William Burkes Haut Vorbild gewesen sein soll.
Universität und Victoria Street verbindet die Straße der National- und Zentralbibliothek. Dort liegt auch The Elephant House, das sich „birthplace“ von Harry Potter nennt und nach einem Brand vor zwei Jahren noch immer geschlossen ist. Vom Hinterzimmer aus soll J. K. Rowling auf den Friedhof geblickt haben. Noch vor dem Elephant House soll sie jedoch in Nicolson’s Cafe geschrieben haben, an dessen Stelle heute ein asiatisches Restaurant betrieben wird.
Die Cafékultur in Edinburgh erinnert mich an Vilnius, wo ich Harry Potter vor zwei Jahren, kurz nachdem das Elephant House gebrannt hatte, zum ersten Mal gelesen und selbst gebrannt habe. Der Herbst ist in beiden Städten zu Hause, nicht zuletzt deshalb, weil sie mit Cafés ein Zuhause außerhalb eines spartanischen, schlecht geheizten Zimmers schaffen. Vielleicht aus ähnlichen Gründen und Wetterbedingungen weist auch die Buchkultur hier Parallelen zu der in Vilnius auf. Wir finden uns in wunderschönen Buchläden wieder, etwa im Topping & Company Booksellers, dem zwei Stockwerke (und zeitgenössischer Lyrik mehrere Regale) eingeräumt werden. The Gently Mad Book Shop & Bookbinder verkauft alte Postkarten, teils beschrieben. Ich entziffere mehrmals „many happy returns of the dog“. Wahrscheinlich war „day“ gemeint, aber Hund gefällt mir besser. Hund ist Freude, Freundschaft, Treue.
Nachts werden wir von seltsamen Lauten geweckt. Der Kampf zweier Vögel? Oder Katzenjammer ob des Widerhakenpenis‘ eines Katers? Handelt es sich um eine der Katzen, die uns am Morgen begegnen? Eine streicht uns um die Beine und schnurrt, als wir sie streicheln.
Wir laufen den Fluss Water of Leith entlang. Egal wie viel an einem Ort gebaut wird, gegen einen Fluss, solange er nicht austrocknet, kommt der Mensch nicht an. Er kann ihn für seine Bauvorhaben nicht beseitigen, nur drum herum bauen. Der Fluss hat die Macht. Das Wasser des Leith führt uns an den Hafen, der problematisch unkritisch an die Gewinnung von Öl aus Walen erinnert.
Flussaufwärts führt uns das Wasser an Dean Village, an Kunst, am AIDS-Memorial vorbei. Mit der National Gallery of Modern Art erreichen wir unser Ziel. Die meisten Werke stammen von einer schwarzen Künstlerin, die auf einem Flachbildschirm erläutert, wie im Museum Kunst entstehen könne. Eine Gruppe Studierender fertigt von ihren Kunstwerken Skizzen an. Am besten gefällt mir eine Landkarte Schottlands mit poetischen Phrasen der ursprünglichen Bedeutung der Orte wie „the end of the pine wood“, „meeting of the waters”, „the field of sighing“, „the burn of sorrow / the burn of care“ und „the talkative one”. Auch für mich können sich Museen moderner Kunst mit Block und Stift lohnen, allerdings nur schreibend, nicht zeichnend.
Wir besuchen zum ersten Mal KFC sowie einen amerikanischen Laden, wo es Twinkies überteuert für 12 £ gibt, einen mit einem Café kombinierten Brettspieleladen mit Tischen zum Spieletesten sowie einen nostalgischen Videospiel- und DVD-Laden.
Am Abend besteigen wir Arthur’s Seat. Von dort oben sehen wir die Burg, deren Kanonen nie Kugeln feuerten, aber von denen eine jeden Tag um 13 Uhr einen Schreckschuss abgibt. Mit derselben One O’Clock Gun, einer Illusion, wurde ein deutsches Luftschiff im Ersten Weltkrieg in die Flucht geschlagen.
An der Burg liegt die Old Town mit ihren engen Gassen, früher zu hochgebauten Häusern, aus denen Exkremente geschüttet wurden, pünktlich zur Erlaubnis um 22 Uhr, als die Pubs schlossen und Betrunkene nach einigen Whiskeys taumelnd auf die Straße traten, woraus der Ausdruck „shit face“ entstand. Die Scheiße floss ins Nor Loch, an dessen Stelle heute Princes Street Gardens und der mit Glas überdachte Bahnhof Waverley Station liegen. Die New Town wurde errichtet mit extrabreiten Boulevards und einer Statue von King George IV., der mindestens so begeistert wie wir selbst einst Schottland besuchte. Damals trug er einen vielfach belächelten Minirock-Kilt, den auch die Statue heute trägt. In des Königs neuen Kleidern wusste er nicht, dass ein Kilt eigentlich bis zum Knie reicht.
Eine weitere Statue stellt auf einer noch höheren Säule den Politiker Henry Dundas dar, dessen Nachfahre kürzlich die Plakette stahl, die darauf hinwies, dass Dundas die Abschaffung des Sklavenhandels um ca. fünf Jahre verzögert hatte.
Unweit davon entfernt, am Ende der Princess Street, liegt das Balmoral Hotel, wo J. K. Rowling die teuerste Suite mietete, um nach einer Schreibblockade den letzten Harry-Potter-Band zu beenden. Aus sechs Tagen wurden sechs Monate und als sie fertig war, gab sie eine Party, auf der sie die Skulptur der Suite beschriftete, was die Suite, die heute J. K. Rowling Suite heißt, für die nachfolgenden Gäste noch teurer machte.
Da liegt die Hauptstadt des Landes, das vor langer Zeit Weihnachten und Tanzen verbot. Dessen Bevölkerung vor kurzer Zeit mit über 60 Prozent gegen den Brexit stimmte, aber mit knapp 5,5 Millionen so klein ist, dass dies nicht ins Gewicht fiel. Das Land, dessen Schulen beim bloßen Anblick verzaubern und mitunter noch auf Gälisch lehren, das heute nur noch 60.000 Schotten sprechen, aber nach der Schule vielleicht nie wieder.
Und da liegt auch das Meer, von dem so viele Seefahrer und Siedler von bereits besetzten Kolonien nicht zurückkehrten. Das machte Schottland so arm, dass es seine Unabhängigkeit an England verkaufte.
Das Pantheon wurde nicht fertiggestellt, wir sehen nur seine Säulen.
Das meiste davon haben wir bei der Old Town und bei der Harry Potter Free Walking Tour erfahren, die wir sehr empfehlen. Nur waren wir anschließend nicht sicher, was wahr ist und was Illusion. Aber das scheint dazuzugehören, wenn man Schottland besucht.
3 Kommentare
Norbert
Einfach schön zu lesen, toll
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Norbert
Herrlich, es liest sich wie ein guter Reiseführer